Über dem gemächlichen Treiben zwischen Landbrot und Schinken hängt am Rathaus ein Transparent mit einer für Fremde auf den ersten Blick unverständlich anmutenden Parole: "Lebensqualität durch Nähe". Diese Motto soll die Leitlinie der Kommunalpolitik beschreiben: die Verankerung in "regionalen Kreisläufen" und deren Stärkung von der Umwelt über die Wirtschaft bis zur Kultur. Dieses Konzept hat Waldkirch, knapp 20 Kilometer nördlich von Freiburg gelegen, sogar zur Mitgliedschaft im internationalen Club "Slow City" verholfen, in dem sich "lebenswerte Städte" versammeln. Bundesweit Aufmerksamkeit erregt hat der Rückkauf des lokalen Stromnetzes vom einstigen Badenwerk: Seither genießen die Bürger niedrige Tarife, die Stadtwerke sind trotzdem profitabel und unterstützen überdies eine umweltfreundliche Energieerzeugung.
In Waldkirch mit seinen 20.000 Einwohnern sind, so scheint es, die Dinge wohlgefügt. Trotz der Pleiten einiger Betriebe stehen annähernd 7.000 Arbeitsplätze zur Verfügung, allein 1.000 bei Sick, einem Unternehmen für Sensorentechnik. Die Erwerbslosenquote ist mit sechs Prozent natürlich zu hoch, dürfte ostdeutsche Politiker indes neidisch werden lassen.
Man merkt es Richard Leibinger an, dass er mit Waldkirch und seiner 20-jährigen Regentschaft zufrieden ist. Der 1983 erstmals gewählte und stets mit satten Mehrheiten im Amt bestätigte Bürgermeister, der "die Stadt in- und auswendig kennt", ist von Schaffensdrang beseelt. Oft verlässt der SPD-Politiker abends als Letzter das Rathaus, auf dem Boden seines Büros stapeln sich Aktenberge, kürzlich gekaufte und noch an der Wand lehnende Gemälde zeugen von kunstsinnigem Interesse. Der Schultes ist die dominierende Figur in Waldkirch.
Ob er politisch alles im Griff hat? Die Antwort wird von einem Understatement-Lächeln begleitet: "Das kann ich selbst nicht beurteilen, da müssen Sie andere fragen." Eine Richtschnur seiner Politik beschreibt der Bürgermeister so: "In Waldkirch kennt jeder jeden, und da hat man dauerhaft nur Erfolg, wenn es in der Regel einen großen Konsens gibt." Der Gemeinderat trifft gut 90 Prozent aller Entscheidungen einmütig. Im lokalen Parlament haben die CDU mit zwölf und die konservativen Freien Wähler mit fünf Sitzen die Mehrheit vor acht Sozialdemokraten und drei DOL-Vertretern; DOL steht für "Die Offene Liste", faktisch sind es die Grünen.
Ja, der Konsens. Rummms, ruckzuck ist die Tür wieder zu. Thorsten Weinreich erinnert sich genau an diesen Moment. Und auch diesen Satz hat der junge Mann noch im Ohr: "Ich führe Krieg gegen euch!" So mussten die Macher vom AJZ, der "Aktion Jugendzentrum", mit ihrer Kamera unverrichteter Dinge wieder abziehen: Für einen Videofilm über ihre selbstverwaltete Einrichtung, in der Rockkonzerte, Kulturevents und politische Veranstaltungen etwa über die EU-Verfassung stattfinden, wollten sie einen ihrer Gegner interviewen. Um dieses AJZ, das in einem buntbemalten alten Gebäude residiert und schon von daher aus dem Rahmen fällt, tobt ein heftiger Kampf.
Weinreich hockt zusammen mit Alexander Schoch, der in den Siebzigern zu den Gründern gehörte und nun für die Grünen im Kreistag Emmendingen mitmischt, auf einem alten Sofa im AJZ und klagt den Ortschaftsrat der Teilgemeinde Kollnau an, der dem Treff wegen angeblich zu lauten Lärms an den Kragen will: "Die haben ihre Beschlüsse gegen uns gefasst, ohne zuvor mit uns ernsthaft zu reden." Schoch: "Streit dieser Art begleitet das AJZ seit 30 Jahren immer wieder." Bei einer Tagung des Ortschaftsrats hatten sich dessen Mitglieder mit Attacken gegen das AJZ regelrecht übertrumpft: CDU-Mann Jürgen Wernet forderte einen "Schlussstrich", SPD-Frau Gabi Schindler wollte das AJZ für ein Jahr schließen, andere verlangten, um 23 Uhr müsse Ruhe herrschen - also zu einer Zeit, wo republikweit das Leben in der Clubszene erst losgeht. Zur nächsten Sitzung des Kollnauer Ortschaftsrats sind die AJZ-Aktivisten von sich aus einfach hinmarschiert, um ihre Interessen zu verteidigen, auch wenn das heiße Thema übehaupt nicht auf der Tagesordnung stand. Das AJZ verbuchte zudem mehrere hundert Unterstützer-Unterschriften, seine Gegner brachten es auf 30.
Die SPD-Fraktion im Gesamtgemeinderat versammelte die Kontrahenten zu einer Diskussion überhaupt einmal an einem Tisch. Vorsitzender Armin Welteroth ("Wir können die jungen Leute nicht in den Wald verbannen") sinniert in seinem Anwaltsbüro über den aufgeladenen Konflikt: "Vielleicht spielen hinter dem Streit um den Lärm unterschwellig kulturelle Dinge eine Rolle." Rockkonzerte im Freien müssen ja auch um 22 Uhr beendet werden, die Stadtmusik darf bis Mitternacht auftreten.
Nicht nur beim AJZ brechen unvermittelt Gegensätze auf. So liegen sich der Teilort Buchholz und das Waldkircher Rathaus wochenlang wegen der Bestellung des dortigen Ortsvorstehers in den Haaren. Zwei Mal nominiert der Ortschaftsrat den bisherigen Amts-inhaber Rolf-Dieter Stoicov, zwei Mal aber findet der im Waldkircher Gemeinderat nicht die nötige Mehrheit. Worum es sich bei diesem Konflikt dreht, erfährt die Öffentlichkeit nicht. In Buchholz empört man sich, dass der Sprengel in Waldkirch untergebuttert werden solle. Im Kommunalparlament munkelt man hingegen in Andeutungen, die Gründe für die Ablehnung Stoicovs lägen in dessen "Person" und in dessen "Amtsführung".
Böse Briefe werden geschrieben, Presseerklärungen verschickt, die Junge Union fordert ein CDU-Gemeinderatsmitglied zum Rücktritt auf und wirft dem Bürgermeister vor, "die Buchholzer Verwaltung ganz unter seine Kontrolle zu bringen". Beim Abend einer Bürgerinitiative der Teilgemeinde wird gewettert, Leibinger habe "an einem Kegelabend nach Mitternacht" einem Buchholzer Bürger das Amt des Ortsvorstehers angetragen. Als das Eisen zu heiß zu werden droht, treffen sich Gemeinderat und Ortschaftsrat kurzerhand hinter verschlossenen Türen, manches soll wohl unter der Decke bleiben. Mutmaßlich wird Stoicov übrigens nicht mehr Ortsvorsteher.
Kleinklein, bald abgehakt, und dann dürfte in Waldkirchs Politik wieder das einkehren, was Martin Stocker ein "vernünftiges Klima" nennt. Der CDU-Fraktionsvorsitzende erzählt im Büro seines Bestattungsunternehmens, das in einem beschaulichen Hinterhof in der City residiert, zum Beispiel vom "Bayersepple". Das ist ein Gasthaus, das schräg gegenüber vom Rathaus auf der anderen Seite des Marktplatzes liegt, und dort quatschen sich die Gemeinderäte - die meisten sind per Du - nach ihren Sitzungen fraktionsübergreifend beim Bier aus. Stocker: "Das bleibt nicht ohne positive Auswirkungen." Seinen Kollegen Bernd Zickgraf von den Freien Wählern beschleicht zuweilen das Gefühl, "dass manche mit dem Auseinanderhalten von persönlicher Sympathie und politischem Streit ein Problem haben".
Leibinger weiß, wie wichtig es ist, "auch beim Bier die Kollegialität zu pflegen". Und er unterstreicht: Als hauptberuflicher Bürgermeister dürfe man gegenüber dem ehrenamtlich tätigen Gemeinderat "nicht überheblich werden", man müsse sich gegenseitig respektieren. Einen solchen Respekt gegenüber dem Rathauschef hegen ihrerseits auch die Fraktionen. Josef Rothmund von der DOL: "Leibinger ist ein Profi durch und durch, er praktiziert die Mehrheitssuche sehr geschickt." Martin Stocker von der CDU assistiert: "Es ist perfekt, wie er sich Mehrheiten in allen Lagern beschafft." Armin Welteroth meint für die SPD: "Die Macht in Waldkirch ist zwar verteilt, aber der Bürgermeister hat schon eine starke Stellung." Und Bernd Zickgraf bewundert "die hohe politische und fachliche Kompetenz Leibingers. Das imponiert mir."
Der Beschluss über die Einrichtung einer Ganztagsgrundschule illustriert die Politik à la Waldkirch ganz gut. SPD und DOL machen sich aus familienpolitischen Gründen für mehr Kinder- und Schülerbetreuung stark. "Doch es nützt nichts, mit wehenden Fahnen herumzurennen", sagt Welteroth, "man muss im Vorfeld einer Entscheidung miteinander reden." Der Bürgermeister betont, es gehe darum, "die Leute mitzunehmen", das "soziale Faible" von SPD, DOL und ihm selbst, das reiche nicht aus. Immerhin regen sich bei der CDU Widerstände gegen die Ganztagsschule, Stocker sieht bei deren Befürwortern auch "Ideologie" im Spiel. Die Abstimmung im Parlament endet bemerkenswert: Nur Stocker bleibt beim Nein, drei CDU-Räte enthalten sich, der Rest ist dafür. Zum Votum seiner Fraktion meint Stocker, da habe sich wohl "der öffentliche Druck ausgewirkt". In einem Landesparlament oder im Bundestag wäre ein Fraktionschef, den die eigenen Leute derart im Regen stehen lassen, weg vom Fenster. Nicht so in Waldkirch.
A propos öffentlicher Druck: In basisdemokratischen Aktivitäten sieht Josef Rothmund im Kern die Kraft der kleinen DOL: "Wir sammeln Unterschriften etwa für Discobusse, veranstalten Podiumsdebatten, machen Info-Stände." Verschmitzt fügt er im Blick auf die Presse an: "Wir haben auch gute Leserbriefschreiber."
Rothmund ist in keinem der 200 Waldkircher Vereine Mitglied: "Die DOL schafft es auch ohne Vereins-meierei, obwohl wir manchmal merken, dass uns dieses Forum fehlt." Zwar meint CDU-Mann Stocker, "dass Vereine für Kommunalpolitiker irgendwie dazugehören". Bei den Gemeinderatswahlen im vergangenen Juni entpuppten sich Narrenvogt Michael Behringer für die CDU und Ursula Querfurth von der Arbeiterwohlfahrt für die SPD auch als Stimmenkönige. Armin Welteroth ist jedoch überzeugt: "Heute kann man mit Vereinsarbeit keinen großen Imagegewinn mehr erzielen." Bernd Zickgraf von den Freien Wählern sieht das ebenfalls so: Der Musiklehrer am Gymnasium hat seinerseits ein PR-Plus, weil er in Waldkirch Konzerte gibt.
Noch etwas hat sich verändert: Die Honoratiorenzirkel von einst sucht man vergebens - Handwerker, Bauunternehmer, Rechtsanwälte, Bankchefs, Schulrektoren, Architekten, die im gesellschaftlichen Leben kungelten und im Lokalparlament dafür sorgten, dass ihre Interessen nicht zu kurz kamen. Welteroth: "Das ist weitgehend verschwunden." Leibinger erinnert sich, dass er vor 20 Jahren anfangs noch mit jenen zu tun hatte, "die den örtlichen Grundstücks- und Baumarkt beherrschten". Heute aber seien kaum noch Freiberufler und Unternehmer politisch aktiv, "die haben keine Zeit mehr". Stattdessen machen andere Druck im Rathaus: Gruppen, die punktuelle Anliegen verfolgen - etwa Elterninitiativen, die eine Schulhofsanierung durchsetzen wollen. Oder, worüber der Bürgermeister richtig wütend werden kann: Da weist die Stadt ein Baugebiet aus, und die jetzigen Bewohner entdecken plötzlich den Natur- und Lärmschutz, um unter diesem Deckmantel die Errichtung neuer Häuser in der Nachbarschaft zu verhindern.
Der Gemeinderat ist keineswegs sonderlich geneigt, sich mit den Bürgern anzulegen. Der Etat ist hoch verschuldet, der Ausgleich gelingt nur über den Verkauf von Grundstücken. Es müsste kräftig gespart werden, und zu diesem Zweck setzte das Parlament eigens ein Gremium mit dem imposanten Namen Haushaltsstrukturkommission ein. Man wälzte Etatpläne, prüfte Zahlenkolonnen und Bilanzen. Allerdings, ob der kleine Zoo, die Bibliothek, das Elztalmuseum mit seiner Drehorgelsammlung, die Schwimmbäder, der Stadtbus, die Musikschule, das Rote Haus als Treff in einem sozial schwierigen Viertel, die Feuerwehr: "Wir fanden einfach nichts zum Sparen", resümiert Josef Rothmund die vergeblichen Anstrengungen. Bernd Zickgraf bringt das Dilemma so auf den Punkt: "Bei allen Projekten finden sich Argumente, die gegen Kürzungen sprechen." Hier wird ein wenig gestrichen, dort werden Gebühren angehoben, das ist es dann. Kämmerer Richard Seng fragt schon besorgt, "was passiert, wenn die verkaufbaren Grundstücke verkauft sind".
Besonders stolz ist Richard Leibinger auf den "Leitbild-Prozess": ein vom Rathaus gemanagtes bürgerschaftliches Engagement, bei dem sich rund 100 Waldkircher in Projektgruppen die Köpfe über die Leitlinien der Kommunalpolitik zerbrachen. Der Bürgermeister: "Das war keine Beschäftigungstherapie." In den Fraktionen gilt dieses Modell, das im Konzept "Lebensqualität als Nähe" gipfelte, ebenfalls als Erfolg. Auch einige praktische Ergebnisse wurden gezeitigt. Die Initiative "Kastelburg in Not" kümmert sich um die Restaurierung der Ruine. Aus dem Ziel einer besseren Kinderbetreuung leitet sich das Votum für die Ganztagsschule ab, in deren Kantine regionale Produkte auf den Tisch kommen sollen. Ältere Bürger werden nach ihren Wünschen befragt. Sogar eine "Vandalismus"-Arbeitsgruppe müht sich um die Bekämpfung desselben: Das mutet erstaunlich an, wo doch laut Polizei solch böses Tun in Waldkirch gar nicht signifikant hoch ist - aber dann müssen bemalte Waggons der Regionalbahn als Beleg herhalten.
Bei so viel herbeigeführter Harmonie ist Streit eigentlich fehl am Platz. Aber es gibt die Konflikte eben doch, um das AJZ, um Herrn Stoicov aus Buchholz, um den weiteren Ausbau der Kinderbetreuung. Los geht auch die Kontroverse um die "Stadtbildsatzung", die Hauseigentümern in der City penible Vorschriften für die Fassaden-, Dach- und Fenstergestaltung bis hin zum Material von Türklingeln macht. Martin Stocker von der CDU ist für diese Maßnahme, Armin Welteroth ("Da gibt es Feuer") hält dies für eine "unsägliche Regelung", auch Betroffene sind wenig begeistert. Überdies zieht ein kleiner Kulturkampf herauf. Eine Schülergruppe und der Jugendgemeinderat fordern, im Rathaus zwei Bilder abzuhängen, die aus der Nazi-Zeit stammen und derzeit mit kritisch-erklärenden Hinweisen versehen sind. Stocker will, da dürfte er seine Partei hinter sich wissen, die Gemälde als "Teil der Waldkircher Geschichte" im Rathaus belassen. SPD-Schultes Leibinger hingegen unterstützt den Vorstoß der Jugendlichen gegen die Blut-und-Boden-Gemälde: "Ich bin dafür, dass die wegkommen."
Aber deutet die niedrige Beteiligung von 53 Prozent beim Urnengang im Juni nicht darauf hin, dass die Bürger die Kommunalpolitik nicht gerade als spannende Kampfarena empfinden? Es ist ja auch so, dass die SPD nur noch selten junge Leute als Neuzugänge gewinnt. Bei der CDU sind die meisten Mitglieder 60 und älter. Man höre oft den Satz, "die machen eh was sie wollen", kommentiert Martin Stocker das Desinteresse an der Rathauspolitik. "Die Frontstellung ist nicht mehr so konfrontativ wie früher", überlegt Armin Welteroth. Immer dann, wenn es wirklich um was gehe, meint Josef Rothmund, "sind die Leute mobilisiert". Bernd Zickgraf hat beobachtet, dass man die überschaubare Zahl aktiver Waldkircher stets aufs Neue antrifft, bei Kulturprojekten, in Initiativen, in der Politik: "Manchmal habe ich den Eindruck, dass über dem gesellschaftlichen Leben eine gewisse Müdigkeit, eine gewisse Lethargie liegt."
Karl-Otto Sattler arbeitet als freier Journalist.