Der Oberbürgermeister von Hannover sprach von der "Ausweidung" der Kommunen durch die Bundespolitik. Das war faktisch einerseits zutreffend und andererseits politisch fatal: Zutreffend ist, dass die Kommunen vor der schwersten Finanzkrise der Nachkriegszeit stehen. Ein Blick in den Gemeindefinanzbericht 2004 zeigt es: Das Finanzierungsdefizit der Kommunen bleibt mit 8,25 Milliarden Euro sehr hoch, die Ausgaben für Investitionen mussten um elf Prozent gekürzt werden, die Kassenkredite zur Finanzierung laufender Ausgaben sind weiter auf 17,7 Milliarden gewachsen, und gleichzeitig sind die Sozialausgaben weiter gestiegen. Dass die Reformbemühungen der Kommunen noch nicht ausreichen, zeigt etwa die Entwicklung der Personalkosten: Sie sind trotz Personalabbau um 1,1 Prozent gestiegen.
Fatal an den Klagen der kommunalen Verbandsfunktionäre - vorgetragen im Jammerton - ist jedoch die Suggestion, wenn nur wieder Geld in die Stadtkassen komme, werde wieder alles, wie es zu Zeiten eines prosperierenden Wirtschaftswachstums einmal war. Stets sind die Kommunalpolitiker in der alten Bundesrepublik treu dem Pfad der Wachstumspolitik gefolgt. Das kommunalpolitische Rezept lautete etwa so: Investieren wir in die Infrastruktur, dann siedeln sich neue Firmen an, der Stadtkämmerer bekommt wieder Geld in die Kasse, und die Politik muss diesen kommunalen Reichtum nur noch in Form von Schwimmbädern oder neuen Kinderspielplätzen an die Bürger verteilen. Diese Art von lokaler Verteilungspolitik hat auch für bürgerschaftliches Engagement in den Stadt- und Gemeinderäten gesorgt. Denn Politik ist erst interessant, wenn es etwas zu gestalten gibt.
Nun spricht einiges dafür, dass dieser Kreislauf kommunaler Wohlfühlpolitik für immer durchbrochen sein könnte: Schon heute gibt es Regionen, in denen weniger als 50 Einwohner pro Quadratkilometer wohnen. In diesen Gegenden gibt es - wenn überhaupt - Wachstum nur bei den aus den Sozialhaushalten der Kommunen finanzierten sozialen und medizinischen Dienstleistungen. Den Anschluss an die urbanen Zentren der Wissensgesellschaft werden Wittenberge oder Hoyerswerda nicht mehr finden; der demografische Wandel wird die ökonomischen Probleme dieser Kommunen verstärken. In Deutschland wird es entleerte und verödete Gegenden geben, in denen der Staat und die Kommunen die Daseinsfürsorge nicht aufrecht erhalten werden können. Pessimistisch gesagt: Auch die beste Infrastruktur kann diesen entlegenen Regionen nicht mehr helfen. Selbst in bestimmten ländlichen Regionen Hessens sind Bürgermeister heute der Auffassung, dass es statt öffentlich unterhaltener Buslinien in 20 Jahren nur noch ein elektronisch gesteuertes System von Sammeltaxis geben wird.
Auch wenn sich in der Föderalismuskommission keine Mehrheit für die Streichung der Leitvorstellung im Grundgesetz finden mag, wonach die "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" in allen Landesteilen herzustellen ist, dürfte es zunehmend schwierig werden, Ausgaben hierfür bei knappen Haushalten im Bund, in den Ländern sowie den Kommunen zur Verfügung zu stellen. Dieses Leitbild kommunaler und ländlicher Entwicklung hat heute faktisch ausgedient. Eine Entwicklung, wie sie in Bayern seit Ende der 60er-Jahre zu beobachten war - die Transformation eines Agrarlandes in ein Industrieland - wird sich wohl nicht wiederholen lassen. Diese Art von Subventionspolitik hätte heute keine politische Mehrheit mehr.
Der Geldsegen wird sich nicht wieder einstellen. Gleichwohl werden die Aufgaben für die Kommunen vergleichsweise anspruchsvoll werden. Einen Masterplan für diese Zukunftsaufgaben gibt es freilich nicht, gleichwohl lassen sich sechs kommunale Politikfelder nennen: Modernisierung der Verwaltung, Bildung von Regionen zur interkommunalen Kooperation, Bewältigung des demographischen Wandels, Stärkung der Bürgerkommune und (abermals) eine Reform der Gewerbesteuer. Der Reihe nach: Die 90er-Jahre waren für die Kommunen das Jahrzehnt der Verwaltungsmodernisierung: Die Haushaltsführung ist mit dem "Neuen Steuerungsmodell" und der Einführung der kaufmännischen Buchführung verbessert worden; Einsparpotenziale haben sich durch ein verbessertes Management von Schulden, Zinsen und Immobilien ergeben; Ansätze zur Verschlankung der lokalen Förderbürokratie hat es gegeben. Kommunale Eigenbetriebe sind mit Erfolg privatisiert worden. Doch in vielen Kommunen verursacht die Anschaffung eines Basketballs im Wert von vier Euro weiterhin Verwaltungskosten von 14 Euro.
Die Erwartung, Geld zu sparen und die wachsenden Probleme der Suburbanisierung in den Griff zu bekommen, stärkt auch den Willen vieler Städte zur Bildung von Regionalverbänden. In Niedersachsen gibt es die Region Hannover, in Nordrhein-Westfalen haben sich die acht größten Städte des Ruhrgebietes (Duisburg, Mülheim an der Ruhr, Oberhausen, Essen, Gelsenkirchen, Herne, Bochum, Dortmund) zur "Städteregion 2030" zusammengeschlossen. Langfristig birgt diese Regionalisierung ein erhebliches Konfliktpotential zwischen regional ko- operierenden Städten und Landkreisen.
Die regionale Kooperation wird aber noch aus einem anderen Grund an Bedeutung gewinnen: Der demografische Wandel und die Schwierigkeiten bei der Integration von Bürgern mit Migrationshintergrund wird Städte und ihre Umlandgemeinden noch stärker zwingen, gemeinsame Antworten auf diese Herausforderungen zu finden. Die Bevölkerungsstruktur vieler Kommunen wird sich in den kommenden 20 Jahren radikal verändern: "Bunter, leerer, schwieriger" - so beschreiben Stadtsoziologen die Zukunft großer Städte. Gut verdienende Familienväter ziehen ins Umland, in den Innenstädten bleiben Rentner, Alleinerziehende, Arme und Ausländer. In den meisten Städten des Ruhrgebietes werden im Jahr 2015 etwa 40 Prozent aller Einwohner einen Migrationshintergrund haben.
Hinzu kommt etwas anderes: Ironischerweise nimmt die Heterogenität der Stadtbevölkerungen genau in dem Moment zu, in dem Kommunalpolitiker - aufgrund der Notwendigkeit von Einsparungen - immer häufiger auf die "Stadtbürgerschaft" vertrauen. "Ein traditionelles Stadtbürgertum, das gemeinsame Interessen und Engagement auf die Heimatstadt richtete, könnte sich zusehends in einzelne Gruppen mit unüberbrückbaren Interessenkonflikten auflösen", heißt es in einer Analyse der von der Bundesregierung finanzierten Initiative "Stadt 2030". Dennoch haben die Kommunalverwaltungen künftig keine andere Möglichkeit, als Bürgerengagement zu fördern und Netzwerke bürgerschaftlicher Gruppen zu unterstützen. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass bürgerschaftliches Engagement zwar Geld sparen kann; eine Kommune, die aber überhaupt nicht zu Investitionen in der Lage ist und ihren öffentlichen Raum der Agonie überlässt, weder auf die Hilfe von Bürgern noch mit Nachwuchs für die Parteien und somit auch qualifizierten Mandatsträgern rechnen kann.
Für all diese Aufgaben - und nicht zum Erhalt des Status quo - brauchen die Kommunen mehr (finanzielle) Autonomie im föderalen System und, langfristig gesehen, auch verlässliche Einnahmen. Formulierungsvorschläge für einen ergänzten Artikel 104a des Grundgesetzes gibt es. Er könnte lauten: "Führen die Gemeinden (Gemeindeverbände) auf Grund eines Bundesgesetzes Recht des Bundes oder der Europäischen Union aus, das Geld- oder Sachleistungen vorsieht, trägt der Bund die sich daraus ergebenden, notwendigen Ausgaben." Bei der Neufassung des Artikels 84, Absatz 1 sind sich der Bund und die Länder weitgehend einig, den Ländern eine größere Freiheit bei der Einrichtung von Behörden und der Bestimmung der Verwaltungsverfahren zu geben. Davon würden auch die Kommunen profitieren, weil es mittlerweile in allen Landesverfassungen das Konnexitätsprinzip ("wer bestellt, muss bezahlen") gibt und es dem Bund künftig schwerer fallen dürfte, Städten und Kommunen neue Aufgaben aufzubürden - wie bei der Einrichtung von Kindergartenplätzen geschehen -, ohne in ausreichendem Maße für die Finanzierung zu sorgen. Aber bei den Verhandlungen in der Föderalismuskommission hat sich abermals gezeigt, dass die Kommunen unter der verfassungsrechtlichen Schwäche leiden, keine eigenständige staatliche Ebene zu sein: Sie haben in der Kommission kein Stimmrecht.
Gewiss nicht mehr in dieser Legislaturperiode, aber zwischen 2006 und 2010 wird sich die Frage nach einer Reform der Gewerbesteuer noch einmal stellen. Die kommunalen Spitzenverbände hatten sich vehement gegen die Abschaffung der Gewerbesteuer gewehrt, vor allem, weil sie Angst vor einer grundlegenden Reform und weiteren Einnahmeverlusten hatten. Die Zahl derjenigen, die ein kommunales Heberecht auf die Körperschafts- und Einkommensteuer sowie einen höheren Anteil der Kommunen an der Umsatzsteuer befürworten, um allzu große Unterschiede zwischen Stadt und Umlandgemeinden auszugleichen, ist in den vergangenen Jahren aber nicht geringer geworden, auch in den kommunalen Spitzenverbänden. Anders gesagt: Für die Kommunen ändert sich im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts fast alles. Manche sehen sich versucht, sogar von einem Jahrhundert der Kommunen zu sprechen. Gemessen an der Größe der Aufgaben, die von Bürgermeistern und Gemeinderäten gelöst werden müssen, ist das angemessen.
Rüdiger Soldt ist Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".