Fast alles, was ich über Sucht weiß, habe ich aus Filmen gelernt. Unauslöschlich haben sich mir die dazugehörenden Gesten eingeprägt: Wie Robert Mitchum ohne sein Gegenüber aus den Augen zu lassen ein Glas Whisky zum Mund führt. Wie Humphrey Bogart sich sorgfältig und beiläufig zugleich eine Zigarette anzündet. Wenn ich es recht bedenke, stehen erschreckend viele jener Kino-Gebärden, die man als Kind gerne imitiert, in einem Suchtzusammenhang. Und ich kann kaum bestreiten, dass mich später, in den "nicht jugendfreien" Filmen, das Hantieren mit illegalen Drogen oft besonders beeindruckt hat: Wie Robert de Niro auf einer Glasfläche eine weiße Linie zusammenschiebt. Überhaupt fesselte der außerordentliche Gebrauch von Löffeln und Geldscheinen meine Aufmerksamkeit, jenes Arsenal an ausgeklügelten Handgriffen, die durch ihre Routiniertheit so beeindruckten wie der mit ihnen einhergehende Selbstzerstörungswille abstieß.
Es sind nämlich nicht nur glamouröse Bilder, die sich in meinem Filmgedächtnis zu einem Alltagswissen über Süchte und Drogenkonsum aller Art angesammelt haben; dazu gehören auch viele Szenen, die das Erbärmliche des Alkoholismus herausstellten, schreckliche Delirien, die in Zwangsjacken und Gummizellen enden und das meist einsame, schmutzige Elend des Drogentods. Nicht zuletzt aber hat mich das Kino auch bestens bekannt gemacht mit den gängigen Therapiemethoden; zuvorderst mit den Glaubenssätzen der Anonymen Alkoholiker. Die Zauberformel des öffentlich ausgesprochenen "Mein Name ist ... und ich bin Alkoholiker" kann in so manchem Melodrama mehr zu Tränen rühren als ein "Ich liebe dich".
Meine "Kino-Drogenkarriere", die eine Geschichte des Fasziniertseins ist, verlief im Übrigen ziemlich genau in jenen Bahnen, die in der realen Welt oft als Weg in die Abhängigkeit beschrieben werden. Es begann mit dem Rauchen. Die Zigarettenstummel, die den Cowboys und Privatdetektiven an den Mundwinkeln hingen, erschienen mir wie der Inbegriff ihrer Coolness; sie waren die sichtbare Entsprechung ihrer lässigen Sprüche und ihrer Schlagfertigkeit - durchaus im Doppelsinn des Wortes. Der Alkoholgenuss war im Vergleich dazu weniger eindeutig positiv besetzt. Das Trinken in Filmen konnte zwar Ausdruck von höchster Eleganz und Weltgewandtheit sein, - "Gerührt und nicht geschüttelt!" -, aber oft auch das Signal für Grobschlächtigkeit und Dekadenz wie in den Western, in denen die begehrte Flüssigkeit mit Lust verschüttet oder durch Flaschenbruch verschwendet wird. Das Interesse für die halluzinogenen Drogen kam erst danach, wobei sich meine Kinogängerbiografie mit gewissen Liberalisierungstendenzen in den Filmen der 70er-Jahre überschnitt. Was ein LSD-Trip ist, weiß ich aus Milos Formans "Hair". Über Heroin und Kokain gaben die ungeschminkten Filme der "New Hollywood"-Regisseure ausführlich Auskunft. Übrigens blieb meine Faszination mit all diesen Phänomenen auf ihre Darstellung im Kino beschränkt. In der realen Welt sollte alles noch einmal ganz anders sein.
Bereits als getrennte Phänomene betrachtet sind Kino und Sucht zwei Themen, die das 20. Jahrhundert wesentlich bestimmt haben. Beide erlebten ihre "Popularisierung" zur etwa gleichen Zeit - in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, den so genannten "goldenen Zwanzigern". Es lag deshalb schon immer sehr nahe, zwischen ihnen einen Zusammenhang zu vermuten. Bis heute wird er meist auf ein und den selben Nenner gebracht: die Verführung. So wurde der Verdacht, dass die filmische Darstellung süchtigen Verhaltens zur Nachahmung inspiriert, trotz zahlreicher Studien weder je wirklich belegt noch ganz entkräftet. Vor allem mit dem Gedanken an das leicht beeindruckbare Kind, das den Cowboy imitiert, leuchtet jedoch die Verführungsthese jeder Generation von Neuem so spontan ein, dass sie nie in Vergessenheit gerät. Pädagogische Erwägungen wie diese, zusammen mit der gesellschaftlichen Ethik der Vorbilder, sind verantwortlich dafür, dass für Suchthandlungen das Gleiche wie für Sex- und Gewalt-Szenen im Kino galt: Bis in die späten 60er-Jahre hinein hielt man sich in Hollywood an den so genannten "Hays Code". Der sah zum Beispiel vor, dass Alkoholgenuss nur im "angemessenen Rahmen", also im Hintergrund vorkommen sollte. Andernfalls musste er deutlich abschreckend gezeigt werden - das waren dann die bereits erwähnten schlimmen Delirien.
Mit den 70er-Jahren kam jedoch eine Zeit, in der die Schuldzuweisungen an die Populärkultur, die große Verführerin der Massen zu sein, abnahmen. Für einige Jahre waren in erster Linie das "System" und der "Kapitalismus" verantwortlich, wenn jemand der Sucht verfiel. Dieser Zeitgeist schlug sich unmittelbar in den Filmen nieder. Die Darstellungen von Nikotin-, Alkohol- und Drogensucht wurden sämtlich expliziter und ausführlicher; die Sorge um Nachahmungstaten stellte man für eine gewisse Zeit hinter die gesellschaftliche Anklage zurück.
Schließlich aber erlebte auch das Kino die notorische "geistig-moralische Wende" der 80er-Jahre. Mit neuer Vehemenz glaubt man seither wieder an die Verführungsthese. Heute sind Laster wie Rauchen und Trinken, von "Schlimmerem" ganz zu Schweigen, im Mainstream-Kino wieder strikt die Angelegenheit von Bösewichtern, während die wahren Helden sich bei der Erwähnung von Nikotin angeekelt abwenden und mit Enthusiasmus Mineralwasser trinken. Wer wirklich sicher gehen will, im Kino nicht mit verwerflichen Handlungen konfrontiert zu werden, kann heutzutage eine Vielzahl von Internetseiten zu Rate ziehen, die penibel Filme bewerten. Szene für Szene wird dort nach allen denkbaren Sündenkategorien aufgelistet, wo und wie Figuren ein schlechtes Beispiel abgeben. Auf "genussvolles Rauchen" etwa können da schon mal Sonderstrafpunkte stehen. Und nicht immer wird zwischen Fiktion und Realität unterschieden; mit dem Hinweis auf ihre Vorbildfunktion rügt man hier auch gerne das private Fehlverhalten der Stars.
Als Konsequenz dieser Entwicklung macht sich in jüngster Zeit allerdings ein gewisser Bumerangeffekt bemerkbar. Gegen die Sterilität und Künstlichkeit der lasterfreien Familienfilme setzen besonders Independent- und Arthouse-Regisseure wieder verstärkt auf drastische und "schmutzige" Darstellungen. Womit sich im Kino ein gesamtgesellschaftliches Phänomen wiederholt. Die Ausgrenzung der Süchtigen rächt sich, indem sie fast zwangsläufig die Attraktivität der Ausgegrenzten steigert. Die Realität könnte hier für einmal eine Lektion aus den Genre-Gesetzen des Kinos beherzigen: Die Ausstrahlung einer tugendhaften Figur wird vom rauen erotischen Charme des Außenseiters stets mühelos überboten.
Wie für Gewaltdarstellungen gilt nämlich für Laster und Süchte ebenso das Paradox, dass auch ihre mit der Absicht der Abschreckung ausgemalten Schreck-lichkeiten sie erst richtig glamourös erscheinen lassen, ja sie gewissermaßen verherrlichen können. So elend der Süchtige gezeigt wird, adelt ihn auf der Leinwand doch fast unweigerlich der Glanz des Rebellentums oder zumindest die Aura des existentialistischen Weltekels. Das Kino bringt sie erst richtig auf den Punkt, die Erotik der Sucht.
So wie es unter den zahlreichen Anti-Kriegsfilmen nur wenige gibt, die der Ästhetisierungsfalle entkommen, gelingt es auch nur wenigen "Suchtfilmen", ihren Gegenstand nicht zu mythisieren, sondern die gängigen Illusionen darüber wirklich zu zerstören. Muss doch an diesen Bruchstellen das Kino gewissermaßen gegen sich selbst arbeiten, gegen den eigenen Hang zur Heroisierung lasterhafter Handlungen und den Sex Appeal des Bad Guy. Was wiederum Filme zur Folge hat, die man zwar zur Suchtprävention empfehlen kann, die aber nur wenige "gerne" sehen. Darren Aranofskys "Requiem for a dream" ist dafür ein Beispiel, weshalb es auch kein Wunder ist, wenn kaum ein "Parlaments"-Leser ihn kennt. Der Film beobachtet so erbarmungslos den Sturz seiner Figuren in Abhängigkeit und Selbstauflösung, dass diese selbst im übertragenen Sinne kaum mehr als Helden zu bezeichnen sind.
Der Umgang der Filme mit dem Thema Sucht führt vor Augen, was sich auf ähnliche Weise in der Gesellschaft ereignet: Das Bedürfnis nach eindeutigen Bewertungen und positiven Vorbildern führt zur Abspaltung und Negation des Zwielichtigen und Ambivalenten. Aber das so Ausgegrenzte kehrt wieder in der vielfältigen Gestalt der Angst-Lust. So können sich oft gerade die Filme, die nicht als erstes auf Abschreckung zielen, dem Thema ehrlicher annähern. In Mike Figgis' "Leaving Las Vegas" zum Beispiel spielt Nicholas Cage einen Alkoholiker, der jeden Gedanken an Heilung längst aufgegeben hat und sich vollends zu Tode saufen möchte. Man könnte dem Film vorwerfen, dass er die Selbstaufgabe feiert - als letzten heroischen Akt. Allerdings geht es in dem Melodram um einen anderen sich hartnäckig haltenden Mythos, der so schmerzvoll wie gründlich zerstört wird: der Glaube, dass die Liebe einen Süchtigen retten könnte.
Jenseits von Verführung und Abschreckung gibt es einen weiteren inneren Zusammenhang zwischen Kino und Sucht zu entdecken, der vielleicht für jene Konkretheit der Suchthandlungen, die mich schon so früh fasziniert hat, verantwortlich ist. Anders gesagt sind Hollywoodfilme nämlich besonders "realistisch", wenn es um Drogen geht. Schließlich kennt man sich damit hier aus. Ob Alkohol, Kokain oder Valium, die "Yellow Press" bringt es immer wieder an den Tag: Sucht ist unter populären Künstlern ein fast allzu vertrauter Gegenstand.
Wo Pädagogen und Sittenwächter es lieber sähen, wenn Sucht als Phänomen der Schwachen, Hässlichen und Bösen dargestellt würde, sind es also die Beteiligten selbst, die es besser wissen. Das Hollywood-Kino ist deshalb ein sehr spezieller Schaukasten für die Suchtproblematik mit ihrem verhängnisvollen Schlingern zwischen dem Bedürfnis, schwach sein zu dürfen, und der Sehnsucht nach Stärke, zwischen Selbstabwertung und Image, Versagensängsten und Siegerposen. Das Kino liebt starke Helden - besonders wenn sie Schwächen haben.
Eine Sucht wie das Rauchen gehört eindeutig zu den "beliebten" Schwächen, weshalb es gar nicht besonders heroisch wirkt, wenn sie überwunden wird. In "Der Clan der Sizialianer" etwa will Lino Ventura als Kommissar sich das Rauchen abgewöhnen. Um wenigstens den taktilen Trost zu haben, trägt er stets eine Zigarette bei sich, reagiert aber sehr unwirsch, wenn ihm jemand Feuer geben will. In allen Frustrationssituationen, in denen die Ermittlungen nicht weitergehen wollen, widersteht er mannhaft der Versuchung. Aber als er seinem Täter endlich auf der Spur ist, steckt er sich schließlich eine an. Die "Charakter-Schwäche" betont die Stärke der Figur: Zuerst, indem er tapfer ablehnt; dann, indem er sich eine gönnt. Ventura führt hier eine der vielen Suchtparadoxien vor: Heroischer als mit dem Rauchen aufzuhören ist nur eines - wieder eine zu rauchen.
Mit dem Alkoholismus im Film sieht es etwas anders aus. Als Stereotyp dient der Alkoholiker der klaren Grenzziehung zwischen "normalem" und "krankhaftem" Trinken. Die Krankheit zu überwinden kann etwas sehr Heroisches sein. In Jean-Pierre Melvilles "Vier im roten Kreis" zum Beispiel wird Ives Montand recht drastisch als Alkoholiker in fortgeschrittenem Stadium vorgestellt - man sieht, wie er im Delirium von ekelhaften Tieren überfallen wird, die bei ihm aus dem Wandschrank kriechen. Als wenig später Alain Delon ihn für einen Überfall anheuert, wäscht und rasiert er sich, als sei nichts gewesen. "Jamais d'alcohol", verkündet er beim ersten Treffen in der Bar. Im Folgenden trainiert er eisern als Scharfschütze. Nach gelungenem Raubzug erklärt er den anderen, dass er auf seinen Anteil verzichte - den "Schrank" besiegt zu haben, sei ihm Lohn genug. In ähnlicher Weise gelingt es auch Dean Martin an der Seite von John Wayne in "Rio Bravo" sich selbst zu heilen. Auch hier ist es die Übernahme einer sinnvollen Aufgabe in einem "Team", die ihn stark sein lässt. Bezeichnenderweise wird sein Triumph über den eigenen Alkoholismus als der Moment gezeigt, als er sich ohne Händezittern wieder eine Zigarette drehen kann ...
Vom Standpunkt heutiger Suchtpsychologie und Suchtprävention aus gesehen sind das sehr zweifelhafte Beispiele. Wie der ebenfalls oft gefilmte "kalte Entzug" - man denke etwa an Gene Hackman in "French Connection" - gehören diese Willenskraftgeschichten einer vergangenen Epoche an, als der Glaube an das Unumstößliche der männlichen Entschlusskraft noch ungebrochen war.
Das Bild der Sucht im Kino hat sich seither ziemlich verändert, einerseits durch den Fortschritt der psychologischen Forschung und ihrer Popularisierung durch Therapie- und Selbsthilfe-Angebote. Andererseits, und das mag überraschen, durch die Emanzipation der Frau. Mit der Frauenbewegung der 70er-Jahre verloren die männlichen Helden mit der Zigarette im Mundwinkel und dem Whiskyglas in der Hand ihre auratische Kraft. Der Kult der Stärke, für den diese Filmikonen stehen, wurde als Mythos entlarvt. Seither hat der starke Mann im Kino ein Problem. Was ihn allerdings fast noch anfälliger für Süchte macht.
Der therapierte Mann taugt nicht zum Kinoheld. In Luis Mandokis "When a man loves a woman" ist es deshalb bezeichnenderweise die Frau, die durch eine erfolgreiche Therapie vom Alkoholismus geheilt wird, während ihr Mann die eigentliche Hauptfigur des Films bildet. Aufopferungsvoll, durchaus heldenhaft unterstützt er sie auf dem dornigen Weg der Entwöhnung. Dann kommt der Schock, nicht nur für den Ehemann, sondern auch für den ans herkömmliche Melodram gewöhnten Zuschauer: Als sie ihr Leben neu beginnt, schickt sie ihn weg. Sie kann den Helden des Alltags nicht ertragen, der ihr keine Möglichkeit lässt, selbst stark zu sein. Selten wurde ein männlicher Held schmerzhafter entthront, selten in einem Mainstream-Film eine so wahre Lektion über das Wesen der Co-Abhängigkeit gezeigt. Der Ehrlichkeit wegen sei allerdings hinzugefügt, dass am Ende des Films die Liebenden wieder zusammenfinden. Die Rückkehr ins Illusionskino möchte man dem Film trotzdem nicht übel nehmen, sorgt das Happy End doch für das verdiente Massenpublikum.
Es ist also nicht unbedingt der Druck von Sittenwächtern und Jugendschützern, der dem Kino den Umgang mit Süchten schwer macht. Die Genregesetze des Kinos selbst sind es, die mit suchtfreien Antihelden nicht wirklich etwas anzufangen wissen. Was über Suchtprävention und -heilung zu lernen ist jenseits von Entschlusskraft und Willensstärke, ist offenbar leichter am weiblichen Beispiel zu demonstrieren. Schwer vorstellbar etwa, dass Sandra Bullocks Rolle in "28 Tage" einem Mann auf den Leib geschrieben worden wäre, muss sie doch gegen ihren Willen vor allem eines lernen: Sich helfen zu lassen. Hilfsbedürftigkeit aber ist ziemlich uncool. Dieser Verzicht auf Coolness, auf die Schönheit des destruktiven Verhaltens wirkt bei Frauen wohl einfach erträglicher.
Eine sehr schöne Farce auf die Therapie-Resistenz der Männer bildet übrigens David Finchers "Fight Club" aus dem Jahre 1999. Hier spielt Edward Norton eine Figur, die süchtig wird nach Selbsthilfegruppen. Die emphatische Umarmung unter Leidensgenossen, der große Moment erlaubter Schwäche, wird für ihn zum "Stoff". Als eine Frau seine Kreise stört, verlegt er sich bezeichnenderweise auf das Gründen einer geheimen Männerbewegung, deren Sinn darin besteht, sich möglichst ungestört die Nasen blutig zu schlagen.
Mein aus dem Kino gezogenes Wissen entpuppt sich also weniger als Wissen über die Sucht, sondern vielmehr über die Moralgeschichte der Sucht und wie sie sich als Krise des männlichen Kinohelden manifestiert. Einst habe ich sie für starke Typen gehalten, heute erscheinen mir Bogart und Mitchum in hohem Grade suchtgefährdet - weil sie vom Kult der Stärke nicht lassen könnten. Sich zur Sucht zu bekennen, der berühmte erste Schritt der Anonymen Alkoholiker, aber ist das Eingeständnis einer Ohnmacht, die selbst einem Anti-Helden nicht gut zu Gesicht steht.
Die Autorin arbeitet als Redakteurin der Wochenzeitung "Freitag".