Tobias war 13, als er sich zum ersten Mal bis ins Koma soff. Vanessa aus Hamburg probierte mit 12 auf einer Silvester-Party ihre erste Zigarette - jetzt ist sie 15 und raucht eine Packung am Tag. Die beiden Jugendlichen stehen für einen Trend, den die Drogenbeauftragte der Bundesregierung Marion Caspers-Merk (SPD) als "sehr besorgniserregend" bezeichnet. Denn je früher der Einstieg in Tabak- oder gar Alkoholsucht erfolgt, desto geringer sind die Chancen auf eine Rückkehr in ein drogenfreies Leben. Im Gegenteil: In der Clique und später in der eigenen Familie werden die Nikotin- und Trinkgewohnheiten meist direkt weitergegeben - ein Teufelskreis. "Familiäre Vorbelastung, das männliche Geschlecht und Persönlichkeitsstörungen" sind laut Professor Gerhard Wiesbeck von der Psychatrischen Universitätsklinik in Basel Hauptursachen des Suchtverhaltens.
Tabak und Alkohol gelten zwar als gesellschaftlich gebilligt, beides zählt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) aber genauso wie Cannabis, Heroin oder Opium zu den Drogen. Darunter fallen alle Substanzen, die Funktionen des Organismus verändern. Denn viel zu schnell wird abends aus einem Glas Wein ein halber Liter, und viele, die glauben, sie könnten jederzeit mit dem Rauchen aufhören, hängen längst an der Kippe. Die WHO hat mit vier Kriterien definiert, wer als süchtig gilt:
Allein beim Rauchen sind die Zahlen für Deutschland alarmierend: 35 Prozent der erwachsenen Bevölkerung zwischen 18 und 59 Jahren inhalieren den blauen Dunst, das sind knapp 17 Millionen Menschen. Pro Kopf und Lungen werden jährlich durchschnittlich 1.800 Zigaretten konsumiert. Der Anteil der Männer beträgt dabei 39 Prozent, der der Frauen 31 Prozent. Insgesamt lässt sich laut Caspers-Merk beobachten, dass der Anteil der männlichen Raucher seit 1997 etwas abgenommen hat, während die meisten Frauen weiter am Glimmstengel hängen. Schlimm stellt sich die Situation bei den Kindern und Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren dar: Der erste Zug an der Zigarette erfolgt durchschnittlich bereits mit 13,5 Jahren. Je jünger die Raucher, desto mehr Mädchen machen mit, beklagt Caspers Merk. Zwischen 12 und 15 Jahren liegt der Anteil der rauchenden Mädchen mittlerweile bei 21 Prozent (Jungen: 18 Prozent).
Bei jungen Frauen hat der Nikotinkonsum oft besonders gravierende Konsequenzen: Unter den Schwangeren rauchen immer noch 20 Prozent, jede dritte Schwangere ist fremdem Tabakrauch ausgesetzt. Die Folge sind teilweise schwer geschädigte Säuglinge. Dramatisch gestiegen sind außerdem die Brust- und Lungenkrebserkrankungen bei Frauen. Noch viel zu wenig erfasst werden laut Bundesgesundheitsministerium die Schäden und Folgekosten für Nichtraucher durch zwangsweises Passivrauchen in öffentlichen Räumen oder beispielsweise in Kneipen und Restaurants.
Klar ist, dass jährlich über 110.000 Menschen an den Folgen ihres Tabaksucht sterben, sehr viele durch Krebs. Darüber hinaus sterben etwa 37.000 durch Kreislauferkrankungen und 20.000 durch Atemwegserkrankungen - das sind insgesamt über 1,5 Millionen verlorene Lebensjahre. Der volkswirtschaftliche Schaden durch die Raucherei ist enorm: Die Deutsche Hauptstelle für Sucht schätzt die Kosten durch Arbeitsausfälle, belegte Klinikbetten, Kuren und aufwendige Krebstherapien auf rund 17,3 Milliarden Euro, das sind über ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Trotzdem verlangt keine Krankenkasse bisher einen Raucherzuschlag.
Einen kleinen Effekt auf das Rauchverhalten hatte immerhin die Anhebung der Tabaksteuer. Dies geht aus der Studie "Umsetzung, Akzeptanz und Auswirkungen der Tabaksteuererhöhung" des Bundesgesundheitsministeriums hervor: Danach haben knapp acht Prozent der Raucher aufgehört, weitere 16,5 Prozent haben ihren Tabakkonsum reduziert. Ein Erfolg mit Einschränkungen: "Viele sind wegen der Verteuerung auf handgedrehte Zigaretten oder Schmuggelware umgestiegen", berichtet ein Mitarbeiter des Finanzministeriums und beklagt den Einbruch bei den Tabaksteuereinnahmen. Die Regierungskoalition hatte die Tabaksteuer in den vergangenen Jahren mehrfach erhöht, allerdings nicht für Tabak zum Selberdrehen. Anfang 2002 und 2003 wurde sie jeweils um einen Cent pro Zigarette heraufgesetzt. Eine weitere dreistufige Anhebung um je 1,2 Cent erfolgte im Frühjahr und im Dezember 2004 und ist für September 2005 vorgesehen.
Neben den Steuererhöhungen versucht Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) mit Programmen wie "Rauchfrei 2004", Aufklärungskampagnen für Jugendliche "Feel free to say no" und Werbeverboten die Sucht nach dem Glimmstengel zu bekämpfen. Seit 2002 ist eine neue Arbeitsstättenverordnung in Kraft. Danach muss niemand mehr am Arbeitsplatz Raucher dulden. Allerdings sind fast alle Restaurants und Kneipen Raucherzonen. Und wer auf einem Bahnhof oder Flughafen frühstücken will, wird ganz selbstverständlich zum Passivrauchen gezwungen.
Laut Drogenbericht der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung trinken etwa 40 Prozent der 16- bis 25-Jährigen regelmäßig Alkohol. Genauso viele sind mindestens einmal im Jahr total betrunken. Jugendliche zwischen 20 und 25 Jahren trinken besonders viel, ein Fünftel von ihnen mehr als zehn Gramm reinen Alkohol pro Woche - das entspricht drei Litern Bier. Über das Verhalten der Jüngeren berichtet das Berliner Robert-Koch-Institut in einer Umfrage unter 9.000 Berliner Schülern: Im Durchschnitt sind die Jugendlichen zum Zeitpunkt des ersten Alkoholkonsums 11,5 Jahre alt. Besäufnisse sind offenbar auch nicht selten: Von den befragten Schülern der fünften Klasse, das heißt den Elfjährigen, waren immerhin gut zehn Prozent schon einmal richtig blau. Bei den 13-Jährigen haben schon 26 Prozent und bei den 15-Jährigen bereits 55 Prozent einen Vollrausch erlebt.
Bei der Frage, wie viel Alkohol Kinder und Jugendliche trinken, spielen der Einfluss der Clique und des Freundeskreises die größte Rolle, fand das Kieler Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung (IFT-Nord) heraus. Auch das Elternhaus hat entscheidenden Einfluss: Kinder aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil Alkoholprobleme hat, haben ein dreifach höheres Risiko, später selbst alkoholkrank zu werden.
Bundesweit beobachtet die Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) bei 9,3 Millionen Bundesbürgern bereits einen "riskanten" Alkoholkonsum - quer durch alle sozialen Schichten. Daneben gibt es rund 1,6 Millionen Alkoholiker mit etwa vier Millionen betroffenen Angehörigen. Zum Vergleich: Die Zahl der Abhängigen von harten Drogen wird mit 250.000 bis 300.000 angegeben. Jährlich werden nach Angaben des Bundesgesundheitsminiseriums 42.000 Todesfälle registriert, die direkt oder indirekt durch Alkoholkonsum herbeigeführt wurden, etwa durch Autounfälle. "Umgerechnet sind das täglich mehr als der Absturz von drei voll besetzten Jumbos", rechnet Professor Jobst Böning, Leiter der Bayrischen Akademie für Suchtfragen, vor. Die Lebenserwartung von Alkoholikern liegt 15 Jahre unter dem Durchschnitt.
Mehr als 220.000 Menschen müssen jedes Jahr infolge ihrer Alkoholsucht medizinisch betreut werden. Und etwa 150.000 bis 200.000 alkoholkranke Frauen bringen jährlich bis zu 3.000 Kinder mit schweren, alkoholbedingten Schäden zur Welt.
Ähnlich wie beim Rauchen sind die volkswirtschaftlichen Schäden gigantisch: Mehr als 20 Milliarden Euro werden laut einer Studie der Freien Universität Berlin jährlich nur durch ambulante Behandlungen, Reha-Maßnahmen und Betreuung verursacht. Hinzu kommen zwölf Milliarden Euro durch Arbeitsunfälle, Krankentransporte und Gewaltverbrechen. Vergleichsweise wenig nimmt der Staat mit etwa 3,4 Milliarden Alkoholsteuern ein.
Für viele Alkoholkranke ist der Ausstieg schwierig, obwohl es in Deutschland viele ambulante und stationäre Einrichtungen für Entziehungskuren gibt und die Krankenkassen Alkoholismus als Krankheit anerkennen. Bundesweit gibt es über 1.300 Beratungsstellen, 10.000 ambulante und 14.000 stationäre Therapieplätze. Darüber hinaus bieten 8.000 Selbsthilfegruppen (www.anonyme-alkoholiker.de oder www.blaues-kreuz.de) Hilfe an, denn viele Menschen sind abhängig, ohne das es ihnen bewusst ist. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung empfiehlt einen einfachen Test, um die eigenen Trinkgewohnheiten zu überprüfen: "Leben Sie vier bis sechs Wochen alkoholfrei. Dadurch können Sie erkennen, inwieweit Sie sich bereits an Alkohol gewöhnt haben und ob die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit schon beeinträchtigt ist."
Eva Haacke ist Korrespondentin der "WirtschaftsWoche" in Berlin.