Das Parlament:
Frau Caspers-Merk, anders als Ihre Vorgänger engagieren Sie sich stark gegen die Verbreitung legaler Drogen. Warum?
Marion Caspers-Merk: Drogenpolitik muss ausgewogen sein. Alkohol und Tabak sind die Volksdrogen Nummer Eins. Und vor allem für Jugendliche gilt: Wer früh Alkohol und Tabak konsumiert, ist eher geneigt, auch Riskanteres auszuprobieren und eines Tages illegale Drogen zu nehmen. Deswegen steht eine erfolgreiche Drogenpolitik geradezu in der Pflicht, das gesamte Spektrum von Drogen und Süchten in den Blick zu nehmen.
Das Parlament:
Früher wurde vor allem und mit viel Verve diskutiert, ob Cannabis eine Einstiegsdroge in die Welt der harten Drogen sei. Sie sagen: Jede Droge ist eine Einstiegsdroge?
Marion Caspers-Merk: Ja. Jedenfalls eine potenzielle. Zahlreiche Untersuchungen sprechen da eine eindeutige Sprache. Außerdem erschrickt das Maß, in dem legale Drogen konsumiert werden. Statistisch zündet ein Jugendlicher seine erste Zigarette mit zwölf oder 13 an, den ersten Alkohol trinkt er mit 13 oder 14. Und: Die mit Abstand größte Gruppe Suchtkranker, nämlich geschätzte 1,5 Millionen Menschen in Deutschland sind von dem allerorten verfügbaren Stoff Alkohol abhängig. 40.000 sterben jährlich an den Folgen ihres Alkoholkonsums. Der Schaden, den legale Drogen in unserer Gesellschaft anrichten, wird zu selten thematisiert.
Das Parlament:
Nun wird gerade Alkohol überall und häufig völlig folgenlos konsumiert. Wo endet Genuss und fängt Sucht an?
Marion Caspers-Merk: Kurz gesagt ist süchtig, wer ohne einen bestimmten Stoff seinen Alltag nicht mehr bewältigen kann. Kennzeichnend für Abhängigkeit ist, dass die Droge Stück für Stück von einem Besitz ergreift. Der Süchtige verliert seine Autonomie; er beginnt sein Leben rund um den Konsum einer Droge zu organisieren und stellt Freundschaften, Familie und beruflichen Erfolg hinten an. Fast immer ist Heimlichkeit ein Faktor von Abhängigkeit. Ob die Droge, die jemand konsumiert, legal oder illegal ist, ist dabei nicht entscheidend.
Das Parlament:
Dennoch haben sich Ihre Vorgänger vor allem mit so genannten harten Drogen beschäftigt.
Marion Caspers-Merk: Bis 1998 gehörte das Amt des Drogenbeauftragten zum Bundesinnenministerium und war damit qua definitionem ausschließlich für verbotene Stoffe zuständig. Die rot-grüne Regierung hat das Büro im Gesundheitsministerium angesiedelt. Das eröffnete die Möglichkeit, nicht länger sicherheits-, sondern gesundheitspolitische Fragen in den Mittelpunkt zu stellen.
Das Parlament:
Ein weites Feld: Ungefähr 200.000 Jugendliche trinken täglich; sechs Prozent sind nach Ihren Erkenntnissen alkoholabhängig, bevor sie 24 Jahre sind. Auch der erste Griff zur Zigarette geschieht immer früher.
Marion Caspers-Merk: Zum Rauchen liegen uns erfreulicherweise erstmals rückläufige Zahlen vor. Die von uns eingeleiteten Maßnahmen beginnen ganz offensichtlich zu greifen. Wir haben nicht nur die Tabaksteuer erhöht, sondern auch die Arbeitsstättenverordnung novelliert und den Jugendschutz ausgebaut. Ich habe den Eindruck, dass die gesellschaftliche Akzeptanz von Nikotin abnimmt und Nichtrauchen allmählich zum Normalfall wird. Ich hoffe, dass wir beim Alkohol bald ähnlich positive Ergebnisse verzeichnen können. Denn natürlich muss Drogenpolitik sich auch daran messen lassen, ob sie auf die gesellschaftspolitische Debatte Einfluss nimmt.
Das Parlament:
Was macht Ihnen die größten Sorgen?
Marion Caspers-Merk: Sehr viele Jugendliche neigen zu immer riskanteren Drogenkonsummustern. Sie nehmen nicht eine, sondern alle möglichen Drogen gleichzeitig. Und sie nutzen Drogen viel instrumenteller als früher: Der Joint soll beruhigen, Ecstasy das Durchfeiern ermöglichen, Alkohol wird ohnehin immer oben drauf gekippt. Die so genannte Spaßkultur hat dazu geführt, dass Jugendliche alles für machbar halten und sich keiner Risiken bewusst sind. Oder, und das wäre noch beunruhigender: Sie sind sich der Risiken bewusst und nehmen sie in Kauf. An diese Erkenntnis schließen sich nicht nur drogen-, sondern vor allem gesellschaftspolitische Fragen an: Wie ernst nimmt man Jugendliche? Welche Chancen und Erfolgserlebnisse bietet man ihnen?
Das Parlament:
Hat die Einstiegsdroge die Ausstiegsdroge ersetzt? Früher nahm man Drogen, um der Welt zu entfliehen, heute, um mitmachen, Schritt halten und immer fit sein zu können?
Marion Caspers-Merk: Da ist etwas dran. Der Druck der Gleichaltrigen, aber auch der Konsumgesellschaft ist enorm. Uns fehlt eine Gesellschaft, die den Jugendlichen vorlebt, dass es auch ohne Drogen geht.
Das Parlament:
Grundsätzlich ist die Zeit des absoluten Abstinenzdogmas aber vorbei?
Marion Caspers-Merk: Das heißt aber nicht, dass ein drogenfreies Leben nicht erstrebenswert ist! Es hat sich nur erwiesen, dass Drogenpolitik, die unter dem Motto "Hände weg von Drogen!" lediglich mit einem ausgestreckten Zeigefinger arbeitet, wenig zielführend ist.
Das Parlament:
Wie macht man es besser?
Marion Caspers-Merk: Prävention ruht auf vier Säulen. Erstens muss sie eine glaubwürdige Botschaft haben, die auch Informationen und schlüssige Argumente enthält. Zweitens sollte die Gruppe der Gleichaltrigen einbezogen werden; so genannte Peers werden von Jugendlichen zum Beispiel häufig eher akzeptiert als Erwachsene. Drittens braucht es kommunale und regionale Strategien, die der Situation vor Ort gerecht werden. Viertens muss ein Konzept, das Jugendliche ansprechen soll, auch ihre Sprache sprechen und darf den Spaßfaktor nicht ignorieren. Jugendliche probieren nun einmal vieles aus und überschreiten Grenzen. Insofern: Kein Abstinenzdogma, aber klare Grenzen und wenn nötig Sanktionen.
DasParlament:
Stichwort Sanktionen: Die Grünen setzen sich nach wie vor für eine Freigabe von Haschisch und Marihuana ein.
Marion Caspers-Merk: Eine Legalisierung wird es mit dieser Bundesregierung nicht geben. Worüber man reden muss, ist die Frage der Strafverfolgung von Konsumenten, die von den Bundesländern immer noch unterschiedlich gehandhabt wird.
Das Parlament:
...So unterschiedlich, dass in einem Bundesland schon der Besitz von drei und in einem anderen erst der von 30 Gramm Cannabis zu einer Verurteilung führt.
Marion Caspers-Merk: Wir haben dazu ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Wenn es vorliegt, werden wir sehen, ob Handlungsbedarf besteht. Grundsätzlich ist Cannabis ein Stoff, dessen Konsum keineswegs risikolos ist und der zu einer wahren Massendroge geworden ist. Unter den 18- bis 29-Jährigen hat sich die Verbreitung in den vergangenen zehn Jahren fast verdreifacht. Immer mehr junge Menschen kiffen exzessiv und sind fast den ganzen Tag breit. Beratungsstellen sehen immer mehr Cannabis-Konsumenten, die Hilfe suchen. Wir brauchen keine Freigabe, sondern eine Risikokommunikation zu Cannabis.
Das Parlament:
Seit Februar 2002 erhalten ausgewählte Abhängige in sieben Städten Heroin auf Rezept. Hat sich das bewährt?
Marion Caspers-Merk: Dabei handelt es sich um eine Arzneimittelstudie, in deren Rahmen Schwerstabhängige, die Heroin erhalten, mit Methadonpatienten verglichen werden. Wissenschaftliche Erkenntnisse liegen dazu noch nicht vor. Einige Städte haben inzwischen die erste Phase des Modellversuchs abgeschlossen; in anderen läuft sie noch.
Das Parlament:
Gibt es erste Hinweise auf Erfolg oder Misserfolg?
Marion Caspers-Merk: Erste Eindrücke weisen darauf hin, dass wesentliche Ziele erreicht sind: Es werden Abhängige erreicht, die durch die Drogenhilfe zuvor nicht angesprochen wurden. Es gibt kaum Abbrecher. Und die ersten haben aus dem Modellversuch in eine drogenfreie Langzeittherapie gewechselt.
Das Parlament:
Aus Kommunen und Ländern wird die Forderung laut, der Bund möge sich finanziell stärker an den Kosten beteiligen.
Marion Caspers-Merk: Für die Zeit des Modellversuchs können nach meinem Eindruck mit dem Finanzierungsmodell Bund-Länder-Kommunen alle ganz gut leben. Sollte das Projekt erfolgreich abgeschlossen werden, werden wir eine Lösung finden, wie dieses Angebot dauerhaft finanziert werden kann.
Das Parlament:
Zum Schluss die Gretchenfrage: Ist eine drogenfreie Gesellschaft nicht eine Illusion?
Marion Caspers-Merk: Sich einer drogenfreien Gesellschaft zu nähern ist erstrebenswert. Und Menschen, die ein Recht auf Rausch fordern, blenden weite Teile der Realität aus. Es gibt nicht nur den zu Erholungszwecken Drogen konsumierenden Mittelschichtsbürger. Wer aus hedonistischen Motiven die Entscheidung über jeden Drogenkonsum individualisieren will, kollektiviert die damit einher gehenden Risiken. Das geht so nicht.
Das Interview führte Jeannette Goddar.