Das wäre doch mal ein Anblick: Entschlossen wirft der Cowboy seine Zigarette weg, will auch vom Whisky nichts mehr wissen und blinzelt mit einer Saftschorle in der Hand dem Sonnenuntergang entgegen. Aber es gibt eben Dinge der Unmöglichkeit, und ein Cowboy, der seine Kumpels nicht jeden Abend unter den Tisch saufen kann, ist eigentlich keiner. Wer würde je auf die Idee kommen, dieser Filmfigur ein ernsthaftes, der Behandlung bedürftiges Alkoholproblem anzudichten? Ihre gleichzeitig demonstrierte Stärke bewahrt sie davor, in einen Suchtzusammenhang gebracht zu werden. Das ist wie im wahren Leben: Sucht und Stärke passen nach landläufiger Meinung nicht zusammen. Im Unterschied zum Filmhelden muss der reale Mensch Stärke jedoch nicht spielen, sondern wirklich besitzen.
Was aber passiert, wenn er dieser gesellschaftlichen Erwartungshaltung nicht entsprechen kann, aber glaubt, ihr unbedingt entsprechen zu müssen? Er, der nicht wie der Filmheld einfach vom Set verschwinden kann, beginnt dann auch ein Spiel - eines, das keines mehr ist: das Spiel der Stärke, das ohne Hilfsmittel nicht funktioniert, und das nur eines soll, das eigene Gefühl der Schwäche oder Überforderung betäuben. So lange es funktioniert, schöpft niemand "Verdacht". Weder der Betroffene noch die Außenstehenden würden von Krankheit sprechen. Was Mediziner nach wissenschaftlichen Kriterien einzuordnen wissen, entspricht nicht unbedingt dem subjektiven Empfinden des Einzelnen. Was "Sucht" ist und wo sie beginnt, ist deshalb oft Ansichtssache.
Der Weg in die Sucht lässt sich natürlich nicht auf gesellschaftliche Zustände allein zurückführen. Vielmehr müssen, wie die Texte dieser Themenausgabe zeigen, unterschiedliche Faktoren zusammentreffen, um Suchtphänomene auszulösen. Genetische Veranlagungen spielen dabei genauso eine Rolle, wie psychologische und neurobiologische Bedingungen. So verschieden wie diese können auch die Gesichter der Sucht sein. "Hilfsmittel" im Spiel der Stärke gibt es viele: das Kaufen, Spielen, den Alkohol oder Heroin. Wenn Frauen sich zehn Bademäntel kaufen, ohne sie zu brauchen; wenn manche Männer ohne das morgendliche kleine Schlückchen nicht fähig sind, zu arbeiten; wenn schon Jugendliche ohne ihre tägliche Dosis bunter Pillen wie Ecstasy nicht auskommen; wenn Mädchen sich selbst stark untergewichtig noch schön finden; wenn Abteilungsleiter ihre Büros nicht verlassen und auch zu Hause noch weiterarbeiten; dann helfen keine einfachen Erklärungsmuster. Dann müssen Therapieformen greifen, die genauso differenziert auf verschiedene Krankheitsbilder abgestimmt sind. Gerade für neuere Phänomene der so genannten Verhaltenssüchte (Spiel- oder Kaufsucht zum Beispiel) ist die Suche nach geeigneten Behandlungsmethoden noch Neuland.
Dennoch: Eine Therapie kann zwar konkret dem Einzelnen helfen. Aber es sollte der Gesellschaft auch um eines gehen: Suchtvermeidung. Das Kind darf erst gar nicht in den Brunnen fallen. Und auch wenn Sucht unterschiedliche Gesichter hat, sich dem Zeitgeist anpasst (Internetsucht), steckt doch hinter allen ein Leistungsdruck, der hinterfragt werden sollte. Irgendwann entspricht der Zwang zu funktionieren, auch im privaten Bereich, ganz offensichtlich nicht mehr verträglichen Maßstäben. Es handelt sich, schaut man die Zahlen an, bei den Betroffenen nicht um eine gesellschaftliche Randgruppe. Sucht in all ihren Facetten ist eine Massenerscheinung, die auf die Verantwortung der Gesellschaft verweist. Was kann getan werden, damit Jugendliche auch ohne Drogen Spaß haben können? Zu dieser Verantwortung gehört auch, Suchterkrankungen vom Stigma persönlichen Versagens zu befreien. Nicht zuletzt deshalb schämen sich die meisten Süchtigen dafür. Sie schämen sich für eine Krankheit, definieren sich selbst als Versager.
Die Autorin arbeitet als Journalistin in Berlin.