Die Forderung, "dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung", so Theodor Adorno 1966. Muss man sich wundern, dass Adornos Postulat keinen nachhaltigen Eingang in die ethische Debatte gefunden hat? Wie soll man moralisch auf Auschwitz antworten außer mit verständnislosem Entsetzen? Und doch stellt sich die Frage, was Auschwitz moralisch bedeutet, als was man den Holocaust verstehen muss. Darauf zu antworten, ist zweifellos die Leistung dieses Buches.
Zimmermann versucht, den Holocaust als ethisches Phänomen zu beschreiben, damit nicht die selbstverständliche moralische Verurteilung im Vordergrund steht. In Auschwitz enthüllt sich für ihn die Intention, Menschlichkeit und Menschsein fundamental umzuwerten, um ein neues Menschentum zu schaffen, das die abendländisch- christliche Ethik zerstört und hinter sich lässt. Vor allem deren Universalismus, dass allen Menschen die gleiche Menschlichkeit eignet - ein Universalismus, der sich politisch wie sozial durchsetzte -, wollte das NS-Regime stoppen.
Der Elite des Regimes folgten in der strukturellen Umformung des eigenen ethischen Charakters bewusst oder unbewusst viele Menschen. Dadurch gelang es dem Nationalsozialismus, den Gedanken der Ungleichheit der Rassen und der Völker zu beleben und soweit zu verbreiten, dass rassistische Diskriminierung kaum noch abgelehnt wurde. Derart legitimierte diese "nazistische Transformationsmoral", wie Zimmermann sie bezeichnet, auch die Aufhebung des fünften Gebotes und ebnete sowohl den Weg zum Massenmord in den Gaskammern als auch für die Ausrottungspolitik vor allem im Osten.
Hitler sprach von der "ungeheuren Umwälzung der Moralbegriffe". Für die Nazis war es legitim zu töten. Sie sahen sich berechtigt zum Völkermord. Indem sie ihn durchführten, kündigten sie das Moralgesetz, so dass seither ein Riss durch das moralische Bild des Menschen geht. Es entstand ein Gattungsbruch, der auf der anderen Seite von einem Gattungsversagen kündigt. Denn das NS-Erziehungsprogramm, dessen Vorhut die SS-Totenkopfverbände waren, treibt das Gewissen einfach aus und produziert einen ebenso gewissenlosen wie gehorsamen Menschentyp.
Jenseits dieser zweifellos treffenden Diagnosen, die gerade deshalb Beachtung verdienen, damit man den Holocaust nicht weiterhin bloß als ethisch irrational und unverständlich qualifiziert, bemüht sich Zimmermann auch um die ethischen Konsequenzen dieser Analyse für Politik und Gesellschaft. Natürlich plädiert er für eine Erneuerung des Universalismus, allerdings nicht als ein Modell idealer Werte, sondern aus seiner konkreten historischen Entwicklung heraus, die der Nationalsozialismus ja stoppen wollte.
Mit einem derartigen historischen Universalismus möchte der Autor vor allem den Sozialwissenschaften einen ethischen Sinn verleihen. Natürlich beruht solcher Sinn der Sozialwissenschaften auf ihren empirischen und analytischen Resultaten, die sich an Max Webers berühmtem Postulat der Wertfreiheit orientieren. Genau durch ihre Objektivität aber sollen die Sozialwissenschaften dazu beitragen, die politische Urteilskraft der Bürger und deren gesellschaftlich rationale Weltinterpretation zu stärken.
Denn Demokratie gründet für Zimmermann im Anschluss an John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit als Fairness und Jürgen Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns in einem moralischen Individualismus. Der Einzelne muss seine moralischen Urteile selbst fällen, auch wenn er sich vorgegebenen ethischen Konzeptionen anschließt. Doch dass der Einzelne dazu in der Lage ist, verdankt er den universalen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit. Der moralische Individualismus erweist sich somit als ein Universalismus. Im Zusammenspiel von Politik und Sozialwissenschaften soll die universelle Menschheitlichkeit, die der Holocaust zerstörte, zurück gewonnen werden.
Rolf Zimmermann
Philosophie nach Auschwitz.
Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft.
Rowohlts Enzyklopädie, Reinbek 2005; 268 S., 12,90 Euro