Etwa 200.000 Menschen fanden am 6. und 9. August 1945 bei den ersten Abwürfen von Atombomben über Hiroshima und Nagasaki innerhalb der ersten Wochen und Monate den Tod. Noch immer leiden Menschen unter den Spätfolgen. Die im Friedensmuseum von Hiroshima gezeigten Dokumente und Gegenstände sind Zeugen der schier unvorstellbaren Zerstörungskraft, welche die Kombination aus Druck, Hitze und Strahlung entfaltete.
Wie kommt es trotzdem dazu, dass heute immer mehr Staaten nach Atomwaffen streben und ihre Arsenale ausbauen? Rechtzeitig zum Jahrestag legt Florian Coulmas, Leiter des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio, einen Band zur Geschichte und Nachgeschichte von Hiroshima vor. Er meint, dass sich die unterschiedlichen Sichtweisen auch nach sechs Jahrzehnten nicht angenähert haben: Während in Japan die Opferperspektive überwiegt, rechtfertigen die USA den Atomschlag als Antwort auf den "heimtückischen" Angriff Japans auf Pearl Harbour.
Das Atombombenprogramm mit dem Codenamen "Manhattan-Projekt" sollte die Leistungsfähigkeit der amerikanischen Wissenschaft demonstrieren. US-Präsident Truman argumentierte, dass der Einsatz der Bombe eine verlustreiche Invasion Japans überflüssig mache. Politisch wollten die USA sowohl einen Verhandlungsfrieden als auch eine sowjetische Beteiligung an der Neuordnung des asiatisch-pazifischen Raums nach dem Krieg vermeiden.
Das völlig zerstörte Zentrum Hiroshimas wurde unter Einbeziehung des "Atombombendoms" in einen Friedensgedächtnispark mit internationalem Konferenzzentrum und Museum umgestaltet. Er wurde zum Symbol des japanischen Nachkriegspazifismus, wobei die Trauer um die japanischen Opfer im Vordergrund stand. Allerdings konnte lange Zeit keine Einigkeit da-rüber erzielt werden, wie der Tausenden von koreanischen (Zwangs-)Arbeitern gedacht werden sollte, die in beiden Städten umgekommen waren. Das Nationalmuseum für Luft- und Raumfahrt in Washington stellt den renovierten Bomber B-29 "Enola Gay", welcher die Bomben abgeworfen hatte, als Meilenstein der wissenschaftlich-technischen Entwicklung der USA aus, ohne die selbstgerechte Erinnerung durch einen Hinweis auf das angerichtete Leid zu trüben.
Coulmas diagnostiziert eine auffällige Sprachlosigkeit westlicher Intellektueller zum Aspekt der erstmals möglich gewordenen Selbstzerstörung der Menschheit. Die japanische Literatur griff die Erinnerung an die atomare Vernichtung nur zögerlich auf: Zensur, Tabuisierung und Widerstand des Establishments gegen die Atombombenliteratur trugen dazu bei. Von besonderem Wert sind die später aufgezeichneten Interviews mit Überlebenden.
Der Autor wählte nicht zufällig ein Zitat des berühmten japanischen Filmemachers Akira Kurosawa zu Beginn des Büchleins: "Jeder erinnert sich nur an das, was ihm angenehm ist." Die Erkenntnis, dass es bei der Verarbeitung des Themas Hiroshima "nicht um Geschichte geht (...), sondern um Gegenwart, um Identität, Stolz und Legitimation politischen Handelns", zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Der Autor vermag das moralische Dilemma und die unterschiedlichen Standpunkte zu dem politisierten und ideologisierten Themenkomplex packend, vielschichtig und facettenreich zu beleuchten.
Seine Sympathien tendieren unverkennbar in Richtung Opferseite; seine wiederholt vorgetragene Kritik an der Verantwortung der USA wirkt dabei gelegentlich etwas aufdringlich. Bekanntermaßen spielten rassistische Motive bei der Entscheidung des US-Präsidenten für den Atombombenabwurf eine nicht unerhebliche Rolle. In einem Schreiben an Senator Russell vom 9. August 1945 (!) führte Truman aus, dass Japan eine "furchtbar grausame und unzivilisierte Nation" sei; die Japaner seien "Biester". Auf die Friedensangebote der japanischen Regierung vom Juli 1945 wollte er nicht mehr eingehen, nachdem er die Nachricht erhalten hatte, dass die Atombombe nunmehr einsatzbereit sei - zumal die japanische Generalität in den Bedingungen für einen Waffenstillstand gespalten war.
Die Atombombe beschleunigte zweifellos Japans Entscheidung zur Kapitulation. Wenngleich es den Rahmen des Büchleins gesprengt hätte, wäre es doch wünschenswert gewesen, dem deutschsprachigen Leser eine breitere Auswahl von Literatur aus der Feder von Personen, welche die Atombombe selbst erlebten, zugänglich zu machen. Der Begriff "nuklearer Holocaust" war zuerst von US-Besatzungsoffizieren in Japan geprägt worden.
Florian Coulmas
Hiroshima. Geschichte und Nachgeschichte.
Verlag C. H. Beck, München 2005; 132 S., 10,90 Euro