Leiden sollen nicht in Vergessenheit geraten. Das dürfte das zentrale Motiv für Elias Khoury gewesen sein, um in seinem großen Roman die Vertreibung des palästinensischen Volkes 1948 literarisch zu verarbeiten. Khoury selbst, 1948 in Beirut geboren, ist zwar kein Palästinenser, jedoch mit deren Geschichte eng verwoben. Als junger Mann schloss er sich der Fatah an und kämpfte im palästinensischen Widerstand. Nach seinem Studium der Geschichte und Soziologie in Beirut und Paris arbeitete er zwischen 1973 und1979 für das PLO-Research Center in palästinensischen Flüchtlingslagern. Dadurch gewann er einen intensiven Einblick in die mündlich tradierten Geschichten der "Naqba", der Katastrophe, wie die Palästinenser ihr kollektives 1948-Trauma nennen.
So ist der Schauplatz seines Epos auch das Flüchtlingslager Schatila, in dem 1982 libanesische Milizen Hunderte der Bewohner ermordeten: In einer nur notdürftig eingerichteten Klinik sitzt der Feddayin und Krankenpfleger Khalil Ayub monatelang am Bett seines Freundes und Ziehvaters Yunus, der seit einem Schlaganfall im Koma liegt. Yunus ist ein palästinensischer Freiheitskämpfer der ersten Stunde. Khalil versucht verzweifelt, ihn ins Leben zurückzuholen, indem er ihm dessen Lebensgeschichte erzählt, seine eigene und die unzähliger Verwandter und Bekannter.
Dieser literarische "Dreh" erlaubt es Khoury, verschiedene Erzählstränge übereinanderzulegen, zwischen diesen zu springen, Geschichten zu variieren und in Frage zu stellen, kurz, einen Strom der Erinnerungen zu produzieren, der verwirbelt, unstet und voller Untiefen ist. Schnell wird klar, dass Khoury versucht, das Wahre in seiner Widersprüchlichkeit festzuhalten. Denn die Geschichte Palästinas sei schwierig. Es gebe tausend Möglichkeiten, sie zu erzählen.
Der Autor erteilt allem scheinbar Klaren und Geglätteten in der Figur des Khalil eine Absage. Khalil ist hin- und hergerissen zwischen dem Heroismus und den Mythen der Vätergeneration einerseits und dem Zweifel, dem Misstrauen gegenüber genau diesen Geschichten und Legenden andererseits. Am Krankenbett sagt er zu Yunus: "Du … bist verschlossen wie alle Männer. Du hast dein Leben zu einer Geschichte gemacht, die geschlossen ist wie ein Kreis."
Khalil erscheint desillusioniert ("Die Zeit damals gehörte den Helden, und die Zeit heute den Nicht-Helden"). Es mangelt ihm an allem, was die Seele zusammenhält: Identität, Vertrauen, Verlässlichkeit und Perspektive. Die klaren Gesetze der Dörfer gelten für ihn nicht mehr. Sein väterlicher Freund Yunus ist hingegen der scheinbar unbeirrte Feddayin, der seine Liebe dem Kampf opferte und die Mutter seiner Kinder über Jahrzehnte nur heimlich sah. Ihr Treffpunkt war das "Tor zur Sonne", eine Felsenhöhle, die sich letztlich zum zentralen Motiv des Romans entwickelt.
Elias Khoury ist über die Grenzen seiner libanesischen Heimat hinaus als kritischer Essayist, Drehbuch- und Theaterautor sowie Romancier bekannt. Er zählt zu den wichtigsten arabischen Schriftstellern der Gegenwart. Mit diesem Buch, seinem bisher bekanntesten, gelang ihm ein monumentales Kaleidoskop des Erinnerns. Vielleicht ist es die Verwirklichung seines Traumes, ein "Epos des palästinensischen Volkes" zu schreiben. Er verfügt über moderne Erzählmittel, deren Möglichkeiten er über weite Strecken bis an die Grenzen ausreizt und damit den Leser fordert, vielleicht überfordert. Denn die zahllosen Erinnerungssplitter lassen sich manchmal nur mühevoll einzelnen Personen zuordnen. Gerade die Konturen der Nebenfiguren geraten häufig zu verschwommen.
Eindringlich zeigt das Buch, mit welcher zerstörerischen Kraft sich politisch-soziale Verwerfungen im individuellen Lebenslauf niederschlagen können. Und dass vor dem Hintergrund der kollektiven Entwurzelung der Konflikt zwischen Jung und Alt, zwischen Tradition und Moderne für den Einzelnen doppelt schwer wiegt. Dafür steht der "Nachgeborene" Khalil, der sich entscheiden muss, ob die Vergangenheit sein biographisches Gefängnis bleiben soll oder wo für ihn das Tor zur Sonne stehen könnte. Zu empfehlen ist auch die filmische Adaption des Buches durch Yousry Nasrallah in Zusammenarbeit mit Arte. Nasrallah hat zuvor als Assistent mit Volker Schlöndorff und Youssef Chahine gearbeitet.
Elias Khoury
Das Tor zur Sonne. Roman.
Aus dem Arabischen von Leila Chammaa.
Klett-Cotta, Stuttgart 2004; 742 S., 25,- Euro
Die Originalausgabe erschien 1998 in Beirut unter dem Tiitel "Bab as-Schams".