Die Frage, ob Islam und Demokratie überhaupt miteinander zu vereinbaren seien, ist in der westlichen Öffentlichkeit häufig zu hören. Dahinter verbirgt sich ein aus Ängsten und Unkenntnis gespeistes Weltbild, das den Islam als ein monolithisches, unveränderliches, auf ewig festgeschriebenes Dogma ansieht. Wahrgenommen werden allein islamisch-fundamentalistische Strömungen, die wiederum als authentischer Ausdruck koranischer Offenbarung gelten. Niemand käme auf die Idee, nach der Vereinbarkeit von Judentum und Demokratie oder Christentum und Demokratie zu fragen, obwohl es in Geschichte und Gegenwart auch der übrigen Weltreligionen gleichermaßen fundamentalistische Strömungen gegeben hat und noch immer gibt.
Warum aber gibt es keine islamischen Staaten, die demokratisch im westliche Sinne sind? Die Antwort liegt in deren politischen und sozialen Strukturen. Für die gesamte arabisch-islamische Welt ist festzustellen, dass sie erst teilweise in der Moderne angekommen ist. In ihrer großen Mehrheit ist sie angesiedelt zwischen Feudalismus und Industriegesellschaft. Selbst dort, wo gleich der Sprung aus beduinischen Lebensverhältnissen in Richtung Postmoderne erfolgte, namentlich in den Golfstaaten, sind die ursprünglichen, auf Tribalismus und Klientelismus basierenden gesellschaftlichen Strukturen weitgehend intakt geblieben.
Die Sozialstruktur ist durchweg pyramidal: einer zahlenmäßig kleinen Oberschicht steht ein Armutsheer gegenüber, während das Bürgertum nur schwach ausgeprägt ist und stets Gefahr läuft, ebenfalls zu verarmen. Stammesdenken und hierarchische Strukturen prägen die politische Kultur bis in den Alltag hinein - der Einzelne ist nichts, der Clan, die Familie, die ethnische oder religiöse Gemeinschaft ist alles. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass Leistungsdenken in arabisch-islamischen Staaten eher eine untergeordnete Rolle spielt. Innovatives Denken und rationales Handeln stößt sich nur zu oft an den allmächtigen Strukturen aus Vetternwirtschaft und Nepotismus.
Dementsprechend ist die Wirtschaft von Marokko bis Indonesien zumindest im Bereich der Schlüsselindustrien noch immer vorwiegend staatlich gelenkt. Hier bedienen sich die Regierenden gerne selbst. Die Privatwirtschaft spielt in der Regel eine untergeordnete Rolle oder ist auf kleine und mittelständische Unternehmen begrenzt. In den kleineren Golfstaaten, wo die freie Marktwirtschaft Triumphe feiert, wird sie überwiegend von den herrschenden Familien kontrolliert, die ihrerseits auf eine lange Geschichte als erfolgreiche Händler zurückblicken.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass die Zivilgesellschaft in der arabisch-islamischen Welt nur schwach ausgeprägt ist. Es fehlt dafür die soziale Basis. Demokratieförderung in der Region bedeutet, sich auf eine Politik der kleinen Schritte einzulassen. Der Arab Human Development Report der Vereinten Nationen liefert hierfür konkrete Anschauung und Handlungsan-leitung, von Investitionen in das überwiegend katastrophale Bildungswesen über die Förderung von Frauen bis zu Good Governance.
Spätestens mit dem 11. September 2001 hat sich jedoch in den USA eine von neokonservativen Denkschulen beeinflusste Politik gegenüber der arabisch-islamischen Welt durchgesetzt, die auf Demokratieförderung durch gewaltsame Regimewechsel setzt. Die Ergebnisse dieser Politik sind gegenwärtig in Afghanis-tan und Irak zu beobachten. Formal mögen beide Länder Fortschritte in Richtung Rechtsstaatlichkeit und Demokratie aufweisen, die Alltagsrealität aber wird geprägt von Terror und Gewalt, von Unsicherheit und Anarchie sowie dem Zerfall zentralstaatlicher Strukturen.
Nüchtern besehen ist der Demokratie-Export mit Waffengewalt ein Modell ohne Zukunft. Vielmehr schafft er neue Probleme, die teilweise noch gefährlicher und unberechenbarer sind als es die alten waren. Vor allem aber ist das Vorgehen Washingtons im Nahen und Mittleren Osten Wasser auf die Mühlen radikaler Fundamentalisten, die ihre Vorurteile gegenüber dem Westen wie aus dem Lehrbuch bestätigt sehen. Im Namen der Bekämpfung islamistischen Terrors entstehen neues Unrecht und Leid, was wiederum neue Gewalttäter motiviert, den verhassten Westen mit allen Mitteln zu bekämpfen.
In diesem Sinn ist der Irak heute ebenso ein Schlachtfeld des Dschihad wie es das von sowjetischen Truppen besetzte Afghanistan in den 80er-Jahren war. Die Bush-Regierung und mit ihr sympathisierende Medien mögen noch so sehr betonen, dass die Gewalt im Irak ein letztes Rückzugsgefecht von Saddam-Getreuen und islamistischen Fanatikern sei - tatsächlich schafft die Militärpräsenz ausländischer Truppen immer wieder Anlass und Vorwand für terroristische Gewalt gegen die Besatzer und gegen die eigene Bevölkerung. Mit anderen Worten: Der Krieg gegen den Terror schafft sich vielfach erst die Feinde, die zu bekämpfen er ursprünglich begonnen wurde.
Obwohl die Zivilgesellschaft und die bürgerliche Mittelschicht schwach ausgeprägt sind, spielen sie bei der Meinungsbildung, etwa über die Medien, durchaus eine wichtige Rolle. In ihrem Werteempfinden ist diese Elite überwiegend prowestlich eingestellt. Sie glaubt an Reformen, Pluralismus und Marktwirtschaft. Das Dilemma ist allerdings, dass westliche Politiker stets hehre Werte wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bemühen, um ihre Machtpolitik im Nahen und Mittleren Osten zu legitimieren. Genau dadurch aber werden diese Werte unglaubwürdig - sie vertragen sich weder mit den Nachrichten aus Guantánamo Bay noch mit den Folterbildern aus Abu Ghreib. Für die islamischen Fundamentalisten wiederum ist die Freiheits-Rhetorik, die einhergeht mit Besatzung und einer Verschlechterung der Lebensbedingungen für einen Großteil der Bevölkerung, ein Beweis für die "Kreuzzugs-Mentalität" des Westens. Der prowestlichen Elite in der arabisch-islamischen Welt gelingt es immer weniger, Gehör zu finden. Der Krieg gegen den Terror, namentlich die eher aus Ideologie denn Pragmatismus und Realitätssinn gespeiste Politik Washingtons in der Region, hat den islamisch-fundamentalistischen Kräften erneut Auftrieb verliehen. Auch deswegen, weil westliche Regierungen ungeachtet aller Freiheitsrhetorik im Zweifel eher auf Regimestabilität setzen und sich mit jeder Diktatur im Nahen und Mittleren Osten sowie in Zentralasien arrangieren, sofern sie nur prowestlich ist.
Die große Mehrheit der Bevölkerung - arm, ungebildet, weitgehend rechtlos - folgt nicht den Versprechen westlicher Regierungen, sondern den einfachen Erklärungen lokaler Prediger. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich eine neue Generation terroristischer Islamisten vorzustellen, die sich zwar auf Al Qaida berufen, aber de facto ihre eigene Politik betreiben und eine neue Generation von Gewalttätern begründen. Der Jordanier Abu Mussab al-Zarkawi, einer der Drahtzieher des Terrors im Irak, ist dafür ein Beispiel.
In diesem Zusammenhang sei auch vermerkt, dass die westliche und die arabisch-islamische Sicht auf den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern unter-schiedlicher kaum ausfallen könnte. Während die westliche Öffentlichkeit in der Regel mit der israelischen Sicht der Dinge sympathisiert, ergreift man im Orient Partei für die Palästinenser. So gelten die palästinensische Hamas und die libanesische Hisbollah unter Arabern als Widerstandsbewegungen gegen die verhasste israelische Besatzung, im Westen und in Israel dagegen fallen sie unter die Rubrik Terror. Das verständnisvolle Schweigen westlicher Regierungen zu der völkerrechtswidrigen Besatzungs- und Siedlungspolitik Israels fördert mit Sicherheit nicht die Glaubwürdigkeit westlicher Politik in der arabisch-islamischen Welt.
Dort, in der weiten Fläche von Marokko bis Indonesien, ist alles Politik. Bis in den Alltag reicht sie hinein, in den täglichen Kampf ums Überleben. Verletzter Stolz, Wut und Verzweiflung angesichts der Tatsache, dass die Muslime zu den Verlierern der Globalisierung gehören, beschädigen das eigene Selbstwertgefühl und machen es anfällig für einfache Erklärungen und Weltbilder. Der politische Islam, der seinen Zenith in den 90er-Jahren eigentlich überschritten hatte, vor allem aufgrund seiner Gewaltbereitschaft, feiert gegenwärtig eine Wiederauferstehung. Mit welchem Ziel, mit welcher Konsequenz, das bleibt abzuwarten.
Die amerikanische Vorstellung, im Irak einem säkularen Islam nach türkischem Vorbild an die Macht zu verhelfen, hat sich längst als Wunschdenken erwiesen. Jenseits aller Fehler westlicher Politik müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass nicht westlich-liberale Intellek-tuelle den Ton in den arabischen und islamischen Ge-sellschaften angeben, sondern religiöse Strömungen. Sie sind nicht zwangsläufig gewalttätig und antiwestlich, und sie werden, in ihren konstruktiven Varianten, Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung nehmen. Das gilt etwa für schiitische Oppositionelle im Irak oder die Muslimbrüder in Ägypten. Ob es uns gefällt oder nicht: ein ernstgemeinter Dialog mit der arabisch-islamischen Welt kann diese Gruppierungen nicht ignorieren. Aber auch radikale islamistische Bewegungen sind eine Teil nahöstlicher Realität. Wie, beispielsweise, mit Hamas und Hisbollah verfahren? Sie ausgrenzen und bekämpfen, was ihren Helden-Nimbus nur verstärkt? Oder sie einbinden in den politischen Prozess und sie somit in die Pflicht nehmen?
Unstrittig erscheint, dass die Beziehungen zwischen Orient und Okzident einer Neubestimmung bedürfen. Demokratie ist mit Waffengewalt nicht zu exportieren. Eine gemeinsame und friedliche Zukunft dürfte es erst dann geben, wenn beide Seiten lernen, einander in Augenhöhe zu begegnen ohne imperiale Erhöhung, ohne verinnerlichten Minderwertigkeitskomplex. Islamistische Gewalt ist ein Phänomen mit vielen Gesichtern, das allerdings auf gemeinsame Ursachen verweist: kulturelle Desorientierung, korrupte und unfähige Regime, fehlende Zukunftschancen, westliches Dominanzstreben.
Michael Lüders, langjähriger Redakteur der Wochenzeitung
"Die Zeit", ist Publizist und Politikberater in Berlin.