Die Frage nach dem Finanzier beschäftigte iranische Geheimdienstler sehr. Sie fürchten iranfeindliche Aktivitäten Pakistans oder wahabitischer Eiferer aus den Golfstaaten, die ihren Einfluss auf Kosten des schiitisch geprägten Irans ausbauen wollen. Das Geld werde vor Ort gesammelt, versicherten die Betreiber der Koranschule den Geheimdienstlern und ließen sie die Kollekte am nächsten Markttag beobachten. Scheck über Scheck in Höhe von mehreren tausend Dollar sollen dort von Besuchern auf ein ausgebreitetes Tuch geworfen worden sein. Das Geld afghanischer Drogenhändler.
Ehemalige Mudschahedin, heute Warlords genannt, beherrschen auch drei Jahre nach der internationalen Militärintervention der so genannten "Allianz gegen Terror" die afghanische Provinz. Über 20 Jahre haben sie ihr Brot mit Krieg verdient. "Jetzt fürchten sie, dass ihnen nur noch wenig Zeit bleibt, politische Macht auszuüben", sagt ein Mitarbeiter des Zentralasiatischen Instituts der Humboldt-Universität Berlin, der nicht genannt werden möchte. Weil sie oft ohne Ausbildung sind, bleibt ihnen eine Verwaltungskarriere im neuen Afghanistan versperrt. "Also versuchen sie, schnell viel Geld zu verdienen, egal wie."
Frühere Kommandanten setzen auf Schlafmohn und werden einflussreiche Großgrundbesitzer. In der weiten Provinz Afghanistans setzt sich durch, wer einen starken Stammesverband im Rücken hat. Schwächer Gestellte suchen den Schutz eines angeseheneren Stammes. Gegen Gefälligkeiten, versteht sich. Auf staatlichen Schutz verlässt man sich nicht. Lutz Rzehak, Dozent am Zentralasiatischen Institut, sieht da wenig Alternativen. "Die Stammesstrukturen sind die Strukturen, die da sind. Mit ihnen muss man sich arrangieren." Das scheinen auch Hilfsorganisationen zu respektieren. Für die Teilnahme von Frauen an Alphabetisierungskursen oder die Einführung technischer Neuerungen holen sie die Zustimmung der traditionellen Ältestenräte ein, berichtet Gisela Hayfa, Leiterin der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) in Kabul.
Stabilität, Good Governance, den Ausbau der Zivilgesellschaft, festgeschriebene Rechte für Minderheiten und Frauen hatte die internationale Gemeinschaft unter Führung der USA in Reaktion auf den 11. September in Afghanistan durchsetzen wollen, um die Region zu stabilisieren. Drei Jahre nach der gewaltsamen Beendigung der Taliban-Herrschaft hat Afghanistan eine international anerkannte, gewählte Regierung und eine neue Verfassung. Doch die Sicherheitslage bleibt kritisch. Fast täglich sterben Menschen bei Anschlägen und kleineren Gefechten. Für internationale Aufregung sorgte die Entführung einer Mitarbeiterin der Organisation CARE im Mai.
Nationale Armee und Polizei sind noch im Aufbau. Der Kontakt zwischen der Hauptstadt und der teilweise schwer zugänglichen Provinz ist traditionell schwach. Ein Waffenmonopol kann der Staat bisher nicht durchsetzen. Vetternwirtschaft und Korruption wird immer wieder beklagt, ein Gouverneursposten soll für 400.000 Dollar verschachert worden sein. Skeptische Afghanen befürchten zudem, dass das Land erneut zwischen den unterschiedlichen geopolitischen Interessen, in deren Mittelpunkt die Rohstoffe Zentralasiens stehen, zerrieben werden könnte.
An der neuen Verfassung, die Ende 2003 ausgearbeitet wurde, hatte es von säkular eingestellten Stimmen Kritik gegeben. Dass Afghanistan dem Namen nach eine islamische Republik sei, zeige den Einfluss, den Islamisten nach wie vor im Land ausübten. Auch der Passus, wonach nichts erlaubt sein soll, was gegen den Islam verstößt, erregte Argwohn. "Aber eine Verfassung ist kein Koran", meint ein Berliner Exilafghane. "Man kann sie noch ändern."
Präsident Hamid Karsai hat keinen leichten Stand, geht aber nach Ansicht von Beobachtern geschickt vor. Im September stehen Parlamentswahlen an. Während seine Regierung immer noch auf die militärische Unterstützung Washingtons angewiesen ist, nutzt Karsai Reizthemen wie Guantanamo, um öffentlich Unabhängigkeit zu demonstrieren.
Ethnische Minderheiten sollen sich durch Minister aus ihren Reihen politisch in Kabul repräsentiert fühlen. Zwei seiner größten Widersacher, den Usbekenführer Abdul Raschid Dostum, und den ehemaligen Gouverneur von Herat, Ismail Khan, komplimentierte er in angesehene, aber unbedeutende Posten. Die Erkenntnis, dass Waffenruhe nicht gegen zu viele Mitglieder der eigenen Bevölkerung durchzusetzen ist, äußerte sich in einem Amnestieangebot für Taliban-Krieger und ihren Führer Mullah Omar im Mai. Der schlug das Angebot aus.
Die ethnischen Konflikte, die während des Bürgerkrieges zwischen 1992 und 2001 zu Massakern auf allen Seiten geführt hatten, gelten noch nicht als ausgeräumt. Erst seit März 2005 beschäftigt sich eine Kommission unter Leitung des ehemaligen säkular-traditionalistischen Mudschahed Sebghatullah Modschadeddi mit der Aufarbeitung der Zwietracht. Blutrache hat eine lange Tradition. Die Geschichte vom Paschtunen, der 100 Jahre nach einem Vorfall einen Rachemord ausübt und sagt, er habe sich beeilt, wird gerne erzählt.
Nationalistisch orientierte Paschtunen sehen sich nach wie vor als die wahren Afghanen. Der Süden des traditionellen Paschtunengebietes wird seit der britischen Kolonialzeit durch die Grenzen zwischen Afghanistan, Pakistan und Iran zerschnitten. Periodisch wird von Paschtunen die Idee lanciert, das Territorium zu einem "Paschtunistan" zu vereinen. Mitglieder anderer Bevölkerungsgruppen wie Tadschiken, Usbeken oder die schiitischen Hazara sind in ihren Augen "Afghanistaner".
Als in die Verfassung diktiert wurde, "die Afghanische Nation wird gebildet durch alle Personen, die als Afghanen bezeichnet werden", witterten Zugehörige anderer Ethnien einen Ausgrenzungsversuch. Gerüchten zufolge haben bei den Wahlen im Oktober 2004 nicht nur Bürger Afghanistans, sondern auch Paschtunen und Belutschen, die in den nördlichen Provinzen Pakistans siedeln, sich aber ebenfalls als "Afghanen" bezeichnen, Stimmzettel abgegeben. Das Ansehen der ausländischen Helfer in der Bevölkerung ist gesunken. Die Provinz fühlt sich vernachlässigt. Immer häufiger beschweren sich Afghanen über angebliche Ineffektivität der Organisationen. Sie unterstellen ihnen, die Hilfsgelder zur Deckung in ihren Augen astronomisch hoher Gehälter zu verwenden und die Preise zu verderben. 400 Dollar soll mittlerweile ein durchschnittliches Kabuler Appartement im Monat kosten. Der Durchschnittslohn lag 2003 bei 190 Dollar im Jahr, informiert das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP). Für Aufsehen sorgte eine Organisation, die sich ihr Hauptquartier 12.000 Dollar im Monat kosten ließ. Dazu kommen zuweilen unsensibles Auftreten und schlechte Öffentlichkeitsarbeit: So haben sich die meisten ausländischen Organisationen im nobelsten Kabuler Villenviertel quasi militärisch verschanzt. Sie nutzen just die gleichen weißen Geländewagenmodellen, die während der Taliban-Herrschaft die Kriegsfürsten und pakistanischen Geheimdienstler führten. Ausländische Mitarbeiterinnen provozieren mitunter durch für afghanische Verhältnisse freizügige Kleidung. "Oft scheitert es an kleinen Details", meint Rzehak. Das Gros der Afghanen ist zudem kaum noch in der Lage, zwischen der Flut nicht profitorientierter Organisationen und Unternehmern, die am Aufbau verdienen wollen, zu unterscheiden.
Ausdruck eines zunehmenden Pessimismus ist auch, dass sich der Blick einfacher Leute in die Vergangenheit richtet. Beschied sich der kommunistische Machthaber Mohammed Nadschibullah nicht mit einer Dreizimmer-Dienstwohnung, fragt man sich in Kabuls Straßen. Die neuen Regierenden nennen teilweise ganze Immobilienimperien im In- und Ausland ihr eigen. Und war das Studium unter den Sowjets nicht kostenlos, während es an der American University of Kabul 5.000 Dollar pro Jahr kosten soll? Schon wittern manche, das Land sei zwischen die Zähne profitgieriger Haie geraten. In einem absurd anmutenden Reflex gilt der 1996 öffentlich gelynchte Nadschibullah heute in einigen Kreisen als Volksheld. Auf dem Bazar kann man seine Reden kaufen. Sein Grab ist zu einer Pilgerstätte geworden. Ein afghanisches Sprichwort lautet: Es gibt keine schlechten Toten und keine guten Lebenden.
Dabei hatten sich vor allem die USA durch ihren überlegen errungenen militärischen Sieg zunächst viel Respekt verschafft. "Jedoch sind bei der Bevölkerung die Erwartungen an die Zukunft sehr hoch gesteckt. Manchen geht es nicht schnell genug", urteilt GTZ-Leiterin Hayfa.
Auch waren wohl die Vorstellungen, was nach dem Sturz der Taliban kommen sollte, in Afghanistan andere als im Ausland. Symbolisch auch hier die Kopftuchdebatte. Das neue Lebensgefühl Kabuler Frauen äußerte sich nicht darin, sich baren Hauptes in der Öffentlichkeit zu zeigen, wie manche in Europa und USA erwartet hatten. Die Kabulerinnen kauften sich vielmehr Hackenschuhe. Schicke Schuhe hatten die Taliban Frauen unter Androhung von Prügeln verboten.
"Nachhaltige Entwicklung braucht Jahrzehnte", mahnt Hayfa. Aber Zeit ist knapp. Laut UNDP gehört Afghanistan zu den sechs ärmsten Ländern der Welt. "Afghanistan produziert lediglich Fleisch, Obst, Gemüse, Ziegelsteine und Opium", rechnet der Mitarbeiter der Humboldt-Universität vor, "alles andere kommt aus dem Ausland." Die Bevölkerung wächst schnell. Heute hat Afghanistan 26 Millionen Einwohner, die es nicht ausreichend ernähren kann. Jede Frau bekommt im Durchschnitt fünf bis sechs Kinder. Was macht man mit 40 Millionen? Zwei von drei Personen sind Analphabeten, nur jede zehnte Frau kann lesen und schreiben. In der notleidenden Peripherie bleibt vielen nur der Drogenhandel. An finanziell überzeugenden Alternativen mangelt es nach wie vor. Wo die Großgrundbesitzer Millionäre werden, fällt auch für Kleinbauern überdurchschnittlich viel ab. Ein anderes afghanisches Sprichwort lautet: "Wenn man Hunger hat, hat man keine Religion und kein Gewissen."
Lennart Lehmann ist Islamwissenschaftler und arbeitet als freier
Journalist in Berlin.