Die islamische Welt und die westliche - sich einst christlich nennende, heute wohl eher als postmodern auftretende - postindustrielle Zivilisation haben als zwei nebeneinander liegende Kulturkreise stets gemeinsame Grenzen besessen. Diese haben sich im Lauf der 1400-jährigen gemeinsamen Geschichte beständig verschoben und sie sind oftmals - doch keineswegs immer - Kampfgrenzen gewesen.
Die hispanisch-arabische Grenze zum Beispiel hat sich zwischen 711 und 1492 zweimal durch die ganze Halbinsel hindurch bewegt, zuerst mit der arabischen Eroberung von Süden nach Norden und Jahrhunderte später mit der "Rückeroberung" (Reconquista) von Nord nach Süd.
Der einst byzantinisch-christliche Nahe Osten und Nordafrika sind durch die ersten großen Eroberungszüge des frühen Islams muslimisch geworden und trotz aller Kreuzzüge bis heute geblieben - mit der einzigen, aber gewichtigen Ausnahme Israels. Die heutige Türkei mit Konstantinopel/Istanbul ist erst zwischen 1071 (Schlacht von Mantzikert) und 1453 islamisiert worden, und eine muslimisch-türkische Kampfgrenze zog sich anschließend durch den ganzen Balkan hindurch, bis sie Wien erreichte, aber nicht einnahm, und dann wieder zurück, bis nur ein winziges Teilstück des Balkans, das heutige Ost-Thrazien, dem türkischen Islam verblieb.
An diesen Grenzen gab es beständige Kleinkämpfe und Beutezüge von beiden Seiten; aber auch immer wieder Waffenstillstände und sogar politische Bündnisse über die religiös-zivilisatorischen Trennungslinien hinweg wie das berühmte zwischen den allerchristlichsten Königen Frankreichs und dem Sultan von Istanbul, der unter dem Titel "Schatten Gottes über der Erde" regierte. Auf dem Trennungsgraben des Mittelmeers entwickelte sich das Korsarentum mit institutionalisierten Gefangennahmen, Versklavungen zu Galeerensklaven und Auslösungen durch Lösegelder auf beiden Seiten. Dies alles, hier nur angedeutet, bildet den historischen Humus, auf dem die alt verwurzelten, zähen und auch heute immer noch kräftig wuchernden Vorurteile "der Christen" gegen "die Muslime" und umgekehrt wachsen und gedeihen.
Die phantasievollsten Vorurteile entstanden und bilden sich heute noch - nicht an den Kampfgrenzen, sondern hinter ihnen - im "muslimischen" oder "christlichen" Hinterland. An der frontera bestand für beide Seiten als Sachzwang die Notwendigkeit, den Feind, dem man über Jahrhunderte hinweg gegenüberstand, möglichst genau zu kennen. Das Ringen der Grenzkämpfer, Mensch gegen Mensch, war konkrete Realität und gewährte daher der Mythenbildung geringeren Raum. Doch im beiderseitigen Hinterland lagen die Dinge anders. Man kannte den Feind nur vom Hörensagen; in ihm glaubte man "den Anderen" schlechthin zu erkennen, das Gegenbild von dem, was man selbst zu sein glaubte oder vorgab.
Er wurde damit zur Projektionsfläche für all das, was man nicht sein konnte, durfte oder nicht sein wollte, oft dämonisiert, wie in der Chanson de Geste oder in Luthers Predigten gegen "die Türkengefahr". Die Dämonisierung diente gleich auch dazu, im Hinterland neue Rekruten für Kämpfe und Beutezüge an der Kampfesfront zu motivieren und anzuwerben. Wenn sie aufgerufen waren, gegen "Teufel" zu kämpfen, glaubten sie sich auch berechtigt, beliebig Beute von den verteufelten Gegnern zu nehmen, einschließlich Menschenraubs und Versklavung, was auf beiden Seiten routinemäßig geschah. Die Aussicht auf Beute aller Art gehörte zur wichtigen Motivation der Kämpfer. Die beste aller Beuten war stets die Landnahme, weil sie den erfolgreichen Kriegern eine Dauerrente versprach, welche die mehr oder weniger leibeigenen Bauern auf beiden Seiten einbringen mussten. Diese relativ einfache Situation der Kämpfe zwischen einigermaßen gleichgewichtigen Gegnern - keiner vermochte den anderen ganz zu überwinden - mit der zu ihnen gehörigen Mythenbildung hinter der Front dauerte an vom siebten bis zum frühen 19. Jahrhundert. Doch dann entwickelte sich eine neue Konfrontation, weniger ausgeglichener Natur. Die eine "Zivilisation" übermannte die andere vollständig. Die einst christlich, nun mehr nationalistisch motivierte westliche Seite überrannte die sich selbst als muslimisch sehende völlig. Mythen und Vorurteile rief auch diese neue, kolonialistische Situation hervor. Sie dienten nun der Selbstrechtfertigung der Kolonialisten. Paris redete sich und der Welt ein, es bringe "la civilisation" nach Nordafrika. Indien wurde für die Briten zum "Juwel des Imperiums".
Sogar der Völkerbund, der eigentlich für die Freiheit der Völker hätte eintreten sollen, erteilte den Siegermächten des Ersten Weltkrieges "Mandate", die sie legitimieren sollten, weite Länder und Volksgruppen des bisherigen Osmanischen Vielvölkerstaates zu kolonisieren, angeblich, um sie einer künftigen politischen Reife entgegenzuführen, welche sie, so der Zweckmythos, zunächst noch nicht besaßen. An Stelle der alten Kampfgrenzen entstanden koloniale Besetzungsregime. Fremde, nominell christliche Heere standen nun eine oder mehrere Generationen lang in den Ländern des Islams und knechteten ihre Völker. Dies bewirkte und motivierte neue Mythen, die sich den alten, auch immer noch nachwirkenden, überlagerten. Der Kolonisierte wurde "unsichtbar". Er war kaum noch ein Mensch, eher eine "unzivilisierte", beinahe tierische Arbeitskraft für die neuen Machthaber; er wurde als unverantwortlich, ungebildet, schlitzohrig, faul, triebhaft, irrational hingestellt - als "völlig anders als wir und letzten Endes für uns unverständlich".
Ihm erschien seinerseits der Kolonisator als "gieriger Imperialist", der es auf "unsere Essenz, unseren Glauben, den Islam, abgesehen hat, weil er hofft, uns auf diesem Wege nicht nur physisch mit militärischen Mitteln, sondern auch geistig-kulturell zu brechen". So haben es zuerst Jamal ad-Din al-Afghani (1839 bis 1897) und sein damaliger Jünger, der junge Muhammed Abduh (1849 bis 1905), gesehen, die in Paris die kurzlebige Zeitschrift "al-Urwa al-Wuthqa" herausbrachten. Später wurde es zum bis heute beliebten Topos in vielen der Predigten und Reden der radikaleren Geistlichen und Intellektuellen. Seither sind die fremden Heere abgezogen. Wichtige Entkolonisierungsdaten sind: 1946 bis 1948 im Nahen und weithin im Ferneren Osten; 1956 in Tunesien und Marokko; 1962 in Algerien; 1971 im Arabischen oder Persischen Golf. Doch verbleibt in der Sicht aller Muslime ein "besetztes Palästina". Die haushohe Machtüberlegenheit "des Westens" dauerte auch nach der Unabhängigkeit an, ja, sie verfestigte sich weiter nach dem Ende des Kalten Krieges, weil nun die sowjetische Gegenmacht wegfiel, die den Machthabern der islamischen Welt ein Lavieren zwischen zwei Machtblöcken erlaubt hatte. Das heute erneut brutal hervortretende Ungleichgewicht der Macht verstärkt und vertieft die Mythen der kolonialen Epoche. Mythen beruhen auf Teilen von Realität, aber sie schaffen auch Tatsachen.
Hier stehen wir heute: Die einzige Supermacht auf Erden glaubt sich "vom Islam" angegriffen und behauptet, verpflichtet zu sein, gegen die "Achse des Bösen" zurückzuschlagen. Die Muslime fühlen sich nicht ohne Grund missverstanden und ihrerseits angegriffen. Unter ihnen bilden sich Minderheitsgruppen von so genannten Islamisten, die sich selbst und ihren Mitmuslimen einreden möchten, sie wären ihrerseits in der Lage, sich im Namen des Islams erfolgreich zur Wehr zu setzen, wenn ihre Völker nur "den Islam" genau befolgten.
Wie im tiefsten Mittelalter motivieren emotionale und pseudoreligiös untermalte Mythen sowohl Kriegsgräuel als auch Beutelust und rechtfertigen scheinbar beides. Raketen werden gegen Selbstmordbomben eingesetzt und umgekehrt. Menschenraub wird im großen Stil getrieben. Länder und wirtschaftliche Privilegien werden widerrechtlich "in Besitz genommen". Nur leider dienen den mittelalterlich anmutenden Kriegsaktionen, die unter religiös-nationalistischen sowie weitgehend lügenhaften angeblichen Sicherheitsvorwänden geführt werden, heute technologisch hoch entwickelte Waffen, die unendlich mehr Schaden anrichten, als es damals Pfeil und Bogen taten.
Die Feindbilder und Propaganda-Mythen werden durch hoch entwickelte Propaganda-Technologie und Psychologie - im ersten Rang das Fernsehen - effizienter denn je ausgebreitet und bewirken deshalb viel mehr Unheil als jemals in sämtlichen früheren Zeiten.
Dr. Arnold Hottinger, Madrid/Lausanne, ist ehemaliger
Nahost-Korrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung".