In der Analyse sind sich die meisten Experten einig: Der auf Reichskanzler Bismarck zurückgehende deutsche Sozialversicherungsstaat, der sich im konjunkturellen Zwischenhoch der Weimarer Republik und in den jungen Jahren der Bundesrepublik weiterentwickelt hat, ist dringend modernisierungsbedürftig. Man muss nicht gleich in die Kassandrarufe des ehemaligen sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf (CDU) einstimmen, der erklärt, die gesetzliche Rentenversicherung habe schlichtweg "keine Zukunft" mehr und werde "in wenigen Jahren an der demografischen Entwicklung zerbrechen". Aber an der von dem langjährigen Regierungsberater Professor Bert Rürup formulierten Einsicht, dass die deutschen Sozialversicherungen mit ihrer Fiktion des Industriearbeiters, der Zeit seines Lebens vollzeitbeschäftigt ist und mit seinen an den Lohn gekoppelten Beiträgen das Umlagesystem finanziert, im Zeitalter der Mini-Jobs und Patchwork-Biografien nicht mehr der gesellschaftlichen Realität entsprechen, führt kein Weg vorbei.
Fast eine Million sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse ist hierzulande seit 2003 verloren gegangen. Nun gibt es noch rund 26 Millionen, Tendenz weiter fallend. Gleichzeitig nimmt der internationale Wettbewerb rasant zu. Steigende Sozialabgaben würden die ohnehin hohen deutschen Arbeitskosten weiter verteuern. Der Sachverständigenrat spricht in seinem jüngsten Gutachten deshalb von einem "beschäftigungs- und wachstumsfeindlichen Abgabenkeil", der sich in Deutschland zwischen Produzenten- und Konsumentenlöhne schiebt.
Das Dilemma war auch Union und SPD bewusst. So konträr ihre im Wahlkampf propagierten Reformoptionen einer pauschalen Gesundheitsprämie und einer Bürgerversicherung erscheinen, verfolgten sie doch ein gemeinsames Ziel: Die Finanzierung der rund 140 Milliarden Euro teuren gesetzlichen Krankenversicherung auf eine breitere Basis zu stellen. Die Union wollte den gesamten Sozialausgleich aus dem Beitragssystem herausoperieren und von den Steuerzahlern bezahlen lassen. Die SPD forderte die Einbeziehung von Selbstständigen und Beamten in die gesetzliche Versicherung sowie die Erhebung von Beiträgen auch auf Kapitalerträge. Bei allen Unterschieden und praktischen Problemen: Zumindest in der Theorie hätten beide Vorschläge dazu geführt, die Löhne von der Sozialabgabenlast zu erleichtern.
Doch in der politischen Auseinandersetzung der vergangenen Monate standen sich die Schlagworte "Gesundheitsprämie" und "Bürgerversicherung" so unversöhnlich gegenüber, dass Union und SPD bei ihren Koalitionsverhandlungen den Konflikt nicht lösen konnten. "Da kann man keinen Mittelweg machen", sagte scheidende SPD-Chef Franz Müntefering. Auf "Formelkompromisse" habe man sich nicht einlassen wollen, erklärte die künftige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). So bleibt die langfristige Finanzierung der Kranken- und Pflegeversicherung durch die schwarz-rote Koalition bei ihrem Start völlig offen. "Wir wollen für diese Frage im Laufe des Jahres 2006 gemeinsam eine Lösung entwickeln", heißt es nebulös im Koalitionsvertrag.
Eine kurzfristige Entlastung der Lohnkosten erhofft sich Schwarz-Rot derweil durch die Senkung des Arbeitslosenbeitrags von 6,5 auf 4,5 Prozent. Die hälftige Finanzierung dieses Vorhabens durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer lässt sich durchaus begründen: Jüngste Studien der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) lassen eine Verlagerung der Lasten durchaus angemessen erscheinen. Während nämlich im OECD-Durchschnitt die Sozialbeiträge am Gesamtaufkommen von Steuern und Abgaben nur 26 Prozent ausmachen, sind es in der Bundesrepublik 40,5 Prozent. Anders ausgedrückt: Deutschland finanziert seine Soziallasten zu stark über die Löhne.
Wenige Tage vor dem Abschluss der Koalitionsgespräche zwischen den großen Volksparteien hatte der Sachverständigenrat in seinem Gutachten daher ein massives Plädoyer für eine stärkere Steuerfinanzierung der Sozialversicherungen vorgelegt. In der Rentenversicherung sei eine Erhöhung des Bundeszuschusses um 6 Milliarden Euro "ordnungspolitisch vertretbar, ja angezeigt", argumentierten die Professoren. Doch ihr 600-Seiten-Wälzer kam nicht nur zu spät, um die Unterhändler von Union und SPD noch zu beeindrucken. Er unterzeichne auch sträflich den Konsolidierungsbedarf und damit die Finanznot des Staates, der keine neuen Subventionen ausgeben könne, konterten die Finanzpolitiker.
So legt die Koalition in der Rentenpolitik einen höchst ambivalenten Start hin. Einerseits verschärft sie die kurzfristigen Liquiditätsprobleme der Alterskassen noch, indem sie die Rentenbeiträge für die Langzeitarbeitslosen kürzt. Dadurch dürfte der Rentenbeitrag 2007 nicht nur auf 19,7 Prozent klettern, wie es die offiziellen Schätzer erwartet hatten, sondern sogar auf 19,9 Prozent. Das trübt nicht nur den positiven Eindruck der sinkenden Arbeitslosenbeiträge mächtig, sondern liegt auch bedrohlich nahe an der 20-Prozent-Grenze, die eigentlich erst 2020 erreicht werden sollte. Andererseits traut sich Schwarz-Rot mit der Heraufsetzung des gesetzlichen Rentenalters auf 67 Jahre einen zwar unvermeidlichen, aber höchst unpopulären Schritt zu tun.
Anders als in der Krankenversicherung kommt ein kompletter Systemwechsel in der Rentenversicherung realistischer Weise nicht in Betracht. Erstens sind die in Chile und Großbritannien gesammelten Erfahrungen mit ganz oder überwiegend kapitalgede-ckten Systemen keineswegs ermutigend. Zweitens und vor allem ist es dafür in Deutschland schlichtweg zu spät: Die Babyboom-Generation geht schon in 15 Jahren in Rente. Sie kann nicht mehr genügend Rücklagen bilden, um ihren Ruhestand selbst zu finanzieren.
Die Herausforderung der nächsten Jahre in der Rentenversicherung besteht daher vor allem darin, die von Globalisierung und Demografie verursachten Lasten einigermaßen gerecht zwischen den Generationen zu verteilen. Allzu viel Zeit ist mit Beschwichtigungen vertan worden. Mit der Einführung einer zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorgesäule und der faktischen Kürzung des Rentenniveaus um rund ein Sechstel hat die bisherige rot-grüne Regierung seit 2001 eine Wende eingeleitet. Die von der neuen Koalition verabredete Einführung eines "Nachholfaktors", der in der Praxis Rentensteigerungen bis ins nächste Jahrzehnt verhindern dürfte, und die stufenweise Anhebung der Altersgrenzen ab 2012 wären weitere Schritte zu mehr Ehrlichkeit und Generationengerechtigkeit.
Massive Proteste von weiten Teilen der Bevölkerung sind Schwarz-Rot gewiss. Doch mutige Zukunftsreformen der Sozialsysteme über die Parteigrenzen hinweg könnten dem Zufallsprodukt der großen Koalition auch eine politische Legitimierung verschaffen und echte Chancen bieten. Dafür aber dürften sich die Ambitionen nicht auf die Rentenversicherung beschränken. Die einstweilen vertagte Finanzierungsreform der Kranken- und Pflegeversicherung ist mindestens genauso dringlich.
Karl Doemens arbeitet als Korrespondent beim "Handelsblatt" in
Berlin.