Ängste, Zukunftssorgen, die Furcht vor dem Abstieg - was ist das? Von Tristesse in Deutschland, einer gedrückten Stimmung, die wie Mehltau auf dem Land liege, berichten das Fernsehen und die Zeitungen. In den Unternehmen, genauer gesagt in den Führungsetagen, kommen diese Botschaften an wie Signale aus einer fremden, dunklen Welt. Hier an der Spitze der Wirtschaft zweifelt niemand an der Zukunft, hier glaubt niemand ans Ende der goldenen Zeiten. Warum auch, wenn Milliardengewinne fließen wie niemals zuvor? "Wohin mit dem ganzen Geld?" - so gibt "Der Spiegel" die Sorgen der Topmanager wider. Während Siemens, BASF, BMW und Co. ihren Arbeitnehmern Zugeständnis um Zugeständnis abringen, streichen sie einen Rekordgewinn nach dem anderen ein. Von der Konjunkturflaute im Heimatland und den Nöten der Menschen haben sie sich abgekoppelt.
Niemals liefen die Geschäfte für die Unternehmen besser, konstatiert die britische Wirtschaftszeitung "The Economist". Das gilt rund um den Globus, nicht nur in Deutschland. Das neue Wirtschaftswunder bringt glänzende Bilanzen, Billiardenüberschüsse und noch prächtigere Zukunftsaussichten. Einerseits. Andererseits werden die Verhältnisse für die große Mehrheit der Bevölkerung immer rauer. Die Beschäftigten in Europa und Nordamerika, also jene im wohlhabenden und geordneten, gepflegten Teil der Erde, zählen traditionell zu den Gewinnern des globalen Handels. Das aber könnte sich geändert haben, seit die Globalisierung eine neue Stufe erreicht hat. Selbst Beschäftigte mit guter Ausbildung, die mit Häuschen und Familienwagen, müssen um ihren Lebensstandard bangen. Nicht nur bei VW und Siemens üben sich die Kollegen in Verzicht, auch die großen US-Konzerne drücken auf die "Besitzstände" mit dem Hinweis, die Produktion jederzeit verlagern zu können.
Die Wirtschaftswissenschaft tut sich schwer mit Erklärungen. Aufgerüttelt hat die Zunft der 90-jährige Nobelpreisträger und Nestor Paul Samuelson, indem er das Urvertrauen in das freie Spiel der Kräfte in Zweifel stellte. Laut Samuelson kann die Globalisierung Situationen schaffen, in denen der Glaubensgrundsatz vom stets segenreichen Freihandel seine Gültigkeit verliert. Wenn etwa die Billigarbeiter in Asien statt Spielzeug und Textilien Autos und Maschinen herstellen, geraten die Löhne in Wolfsburg, Sindelfingen und Detroit unter Druck. Tatsächlich konkurrieren China, Indien und erst recht Korea längst nicht mehr allein mit exotischen Spezialitäten und Billigstprodukten. Sie nähern ihre Wirtschaftsstrukturen denen in Europa oder den USA an. Sie dringen in die Reviere der Platzhirsche ein, so dass deren Weidegründe eng werden.
Die Thesen von Samuelson sind nicht ohne Widerspruch geblieben. So hält der renommierte Außenhandelsexperte Jagdish Bhagwati dagegen mit dem Hinweis, dass der freie Austausch von Waren und Diens-ten weiterhin unterm Strich Wohlstand schaffe. Doch das Nachdenken hat eingesetzt, ob die alten Weisheiten in der modernen Globalisierung noch gelten.
Als "Wendepunkt in der Wirtschaftsgeschichte" begreift der Harvard-Ökonom Richard Freeman das Auftauchen von China und Indien aus Isolation und Rückständigkeit. Mit dem Eintritt von zweieinhalb Milliarden Arbeitnehmern in den weltweiten Wettbewerb erklärt er den Druck auf die Löhne in Nürnberg, Antwerpen und Philadelphia. Seit die osteuropäischen Länder sich für die Marktwirtschaft geöffnet haben, vor allem aber seit die beiden asiatischen Milliardenvölker in den globalen Handel eingetreten sind, hat sich das Arbeitskräfteangebot verdoppelt. Im Vergleich zu ihrer Größe bringen die beiden neuen Mächte der Weltwirtschaft wenig Kapital mit. Sie haben Menschen zu bieten, Menschen und noch einmal Menschen - billige und vielfach erstaunlich gut qualifizierte Arbeitskräfte. In China stellt Siemens tausende junge Leute, Ingenieure und Betriebswirte, ein. In München oder Frankfurt streicht der Konzern die Belegschaftszahlen zusammen.
Vor allem der Einstieg Chinas in den weltweiten Konkurrenzkampf hat die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer geschwächt. Wie nie zuvor ist das Verhältnis Kapital zu Arbeit gefallen - mit den entsprechenden Konsequenzen: Was knapp ist (Kapital), wird in der Marktwirtschaft reichlich entlohnt. Was im Überfluss zur Verfügung steht (Arbeitskraft), muss mit weniger auskommen.
Hilflos geht die Politik mit dieser Herausforderung um. Aus der Globalisierung auszusteigen, wie es Radikalkritiker fordern, ist weder möglich noch sinnvoll. Auch moralisch wäre eine solche Strategie nicht vertretbar, würde sie doch hunderte von Millionen Menschen in den sich entwickelnden Ländern ihrer Chancen berauben. Traditionell haben die Arbeiter in den wohlhabenden Regionen vom internationalen Handel profitiert, nun sind Beschäftigte in Indien und China an der Reihe. Auch wenn Millionen von ihnen unter miserablen und menschenverachtenden Bedingungen schuften, bietet ihnen nur der grenzüberschreitende Handel die Aussicht auf Besserung. "Selbstgerechtigkeit" wirft der US-Ökonom Paul Krugman allen im Westen vor, die den neuen Konkurrenten diese Chancen nehmen möchten. Eine Alternative zum Aufstieg auf Billiglohnbasis hätten diese Menschen nicht. Trotz all der Ungerechtigkeiten sei das exportorientierte Wachstum für die Beschäftigten dieser Länder "ein großer Segen".
Das Unvermeidliche anzuerkennen heißt freilich nicht, allem seinen Lauf zu lassen. Die Politik kann und sollte die Globalisierung gestalten. Vor allem steht sie in der Pflicht, für eine gerechte Verteilung der Gewinne aus dem weltweiten Warenaustausch zu sorgen. Darauf haben vor allem die hungernden Kinder und ihre Eltern in den Entwicklungsländern einen Anspruch. Aber auch in den besser gestellten Nationen gilt es, die soziale Balance zu stärken. Diese Länder müssen sich auf die eigenen Stärken statt die der anderen besinnen, wenn sie die Massen am Reichtum des 21. Jahrhunderts beteiligen wollen. Gewinnen können sie im Wettlauf um die beste Bildung, die modernsten Technologien und die neuesten Ideen, nicht aber im Kostenrennen.
Unverzichtbar sind darüber hinaus internationale Absprachen. Nur mit gemeinsamen Regeln lässt sich verhindern, dass Arbeitnehmer von Ort zu Ort, von Region zu Region, von Erdteil zu Erdteil gegeneinander ausgespielt werden. Der Weg dorthin ist steinig, wie das Beispiel Europäische Union zeigt. Selbst hier ist es nicht gelungen, soziale Standards oder Mindeststeuern wirksam zu verankern. Schicksal aber ist das nicht, sondern eine Frage des politischen Willens.
Sven Sievers ist Redakteur in der Parlamentsredaktion der
"Frankfurter Rundschau" in Berlin.