Offiziell sollen beim nächsten WTO-Gipfel in Hongkong im Dezember 2005 wichtige Entscheidungen über den Abbau von Agrarsubventionen und Agrarzöllen vor allem in den Industrieländern sowie über die Öffnung von Märkten für Industriegüter und Dienstleistungen in den Entwicklungsländern fallen. Der Hongkong-Gipfel ist ein erneuter, manche Experten meinen, ein letzter Versuch der WTO, die im Jahr 2001 begonnene so genannte Doha-Runde zur multilateralen Handelsliberalisierung zu retten. Bereits im Jahr 2003 war der WTO-Gipfel im mexikanischen Cancun an den ungelösten Problemen des Agrarmarktes gescheitert. Weltbankpräsident Paul Wolfowitz soll laut der Zeitung "Financial Times Deutschland" vom 10. Oktober 2005 vorsorglich gewarnt haben: "Eine Handelsvereinbarung in Hongkong würde Investitionen erleichtern und Wachstum schaffen, das Millionen, wenn nicht Milliarden Menschen den Ausweg aus der Armut ermöglicht."
Einen Gutteil ihres zehnjährigen Bestehens hat die inzwischen 148 Mitgliedsstaaten zählende WTO schon über den Abbau von Zöllen und Subventionen im Agrarsektor gestritten. Bislang erfolglos. Die Fronten in dem als "Entwicklungsrunde" verbrämten Machtkampf innerhalb der WTO sind vor allem deswegen verhärtet. Scheitert der Gipfel von Hongkong, so könnten an die Stelle multinationaler (WTO-) Abkommen bilaterale und regionale Freihandelsabkommen treten. Darunter würden die Schwellen- und Entwicklungsländer womöglich mehr leiden als die Industrienationen. Denn deren zentrale Anliegen zum unbehinderten Handel mit Industriegütern sind längst von der WTO auf den Weg gebracht worden. Für die EU, die USA, Japan und Kanada ist deshalb nicht mehr so viel zu gewinnen wie früher.
Bis heute schotten die Industrienationen ihre Märkte gegen Agrarimporte aus Schwellen- und Entwick-lungsländern ab, während sie zugleich ihre eigenen Agrarprodukte auf verschiedenste Weise subventionieren, um sie auf dem Weltmarkt und nicht zuletzt in den armen Ländern abzusetzen. Die EU gibt jedes Jahr bei einem Gesamtumfang der EU-Agrar- und Fischereiausgaben von circa 49 Milliarden Euro, etwa 40 Milliarden Euro für so genannte Marktordnungen aus. Unter anderem sponsert die EU den Export von Überschüssen durch "Exportbeihilfen". Eine halbe Milliarde Euro zahlt allein das in Deutschland dafür zuständige Hauptzollamt Hamburg-Jonas jedes Jahr aus. Den Löwenanteil von rund 90 Prozent erhalten die Exporteure von Rindfleisch, Milch- und Milcherzeugnissen sowie Zucker. Die USA gehen andere Wege. Überschüsse werden den dortigen Farmern abgekauft und als Nahrungsmittelhilfe in Entwicklungsländer geliefert. Dumping ist beides.
Dem hohen Subventionsniveau und weitgehend geschlossenen Agrarmärkten im Norden stehen nach wie vor weitgehend offene Märkte mit kaum subventionierter Landwirtschaft im Süden gegenüber. Eine der grundlegendsten Forderungen der Entwicklungsländer für die kommende Verhandlungsrunde lautet daher "Balance the imbalances". Immerhin arbeitet ein großer Teil der Bevölkerung im Süden in klein strukturierten landwirtschaftlichen Betrieben, die insbesondere Grundnahrungsmittel für den heimischen Markt produzieren. Das Gelingen der Hongkong-Konferenz und damit der Doha-"Entwicklungsrunde" hängt maßgeblich davon ab, ob sich die Industrieländer stärker bewegen als die Entwicklungs- und Schwellenländer.
Bislang bestrafen die Industrienationen Importe aus Entwicklungsländern mit viermal höheren Zöllen als Importe, die von ihresgleichen stammen. Die Weltbank hat ausgerechnet, dass dieser Protektionismus der Reichen die Armen etwa 100 Milliarden Dollar im Jahr kostet. Eine Summe, die doppelt so hoch ist wie alle Entwicklungshilfegelder zusammen. Doch die überhöhten Zölle sind nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite stehen unglaublich hohe Summen an Subventionen. In den wirtschaftlich am meisten entwickelten 30 Mitgliedsstaaten der "Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung" (OECD) sollen diese von 247 Milliarden US-Dollar im Jahr 1986 auf 318 Milliarden US Dollar im Jahr 2002 angewachsen sein. Subventionierte Billigimporte aus dem Norden belasten besonders die kleinen Bauern im Süden, zerstören oftmals deren Lebensgrundlagen.
Entgegen manchem Vorurteil spielen keineswegs die USA die unrühmlichste Rolle im undurchsichtigen Geschacher und Versteckspiel um Vergünstigungen und Zollhürden im Agrobusiness. So hatten die USA bereits vor über zwei Jahren vorgeschlagen, die Zölle für Agrarprodukte um 75 Prozent zu senken. Doch die EU kippte diesen durchaus den Interessen der Entwicklungsländer entgegenkommenden amerikanischen Vorstoß auf Druck Frankreichs. Außerdem weigerte sich die EU, die handelsverzerrenden Subventionen für ihre Bauern deutlich zu senken.
Dass nur der geringste Teil der Agrarsubventionen überhaupt bei den Bauern ankommt, wie die OECD in einer bereits vor einigen Jahren veröffentlichten Studie ermittelte, scheint die EU-Verhandlungsführer nicht sonderlich zu beeindrucken. Der OECD-Studie zufolge erhält der Landwirt von einem Euro, der von den Regierungen für Preisstützungen ausgegeben wird, nicht mehr als 25 Cent. Der Rest lande bei den Verpächtern von Ackerland, werde für den Kauf von Betriebsmitteln aufgewendet oder gehe durch Ineffizienz der Politik verloren.
Die Öffnung der Agrarmärkte kann zu mehr Gerechtigkeit auf der Welt beitragen. Dies muss weder zum Schaden für die Verbraucher noch für die Umwelt oder die Landwirte in den Industrieländern sein. Bisher hat die protektionistische europäische Agrarpolitik nicht zu einer besonders umweltverträglichen Landwirtschaft geführt. Im Gegenteil: Die Landwirtschaft ist der "wichtigsten Verursacher von Belastungen der Ökosysteme und der Reduzierung der Biodiversität, für Beeinträchtigungen der natürlichen Bodenfunktionen, für Belastungen von Grund- und Oberflächengewässern und in der Folge von Nord- und Ostsee" geworden. So steht es im "Umweltgutachten 2004" des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen beim Bundesumweltminister. Ebenso unmissverständlich heißt es dort: "Eine Liberalisierung der europäischen Agrarmärkte muss nicht notwendigerweise zu einer weiteren Verschlechterung der Umweltbilanz der Landwirtschaft führen."
In der Globalisierungsdebatte werden zukunftsweisende, gleichermaßen sozial und ökologisch sinnvolle Strategien für eine Landwirtschaft benötigt, die in der Lage ist, die Weltbevölkerung mit qualitativ hochwertigen Produkten zu ernähren. Dies gilt unabhängig davon, ob man die Ausrichtung oder gar die Existenz der WTO politisch für wünschenswert hält oder nicht. Für eine solche Agrarpolitik einzutreten, ist im Rahmen der WTO genauso richtig wie in der EU. Denn die europäischen Agrar-Protektionisten bedienen sich großzügig bei ihren Bürgern. Allein das EU-Zuckerkartell verringert die Kaufkraft der europäischen Verbraucher jährlich um sechseinhalb Milliarden Euro.
Doch fast alle politischen Akteure in Deutschland und in der Europäischen Union drücken sich bis heute darum, die Notwendigkeit öffentlich einzugestehen, dass Agrarsubventionen und Zollschranken drastisch abgebaut werden müssen, um einen fairen Welthandel zu ermöglichen. Verantwortlich dafür ist eine Mischung aus Angst vor den Lobbyisten der Zucker, Fleisch- und Milch erzeugenden und verarbeitenden Wirtschaft und falscher Rücksichtnahme auf rückwärtsgewandte Klienten. Es mag sein, dass die Wahlaussichten des einen oder anderen europäischen Staatsoberhaupts steigen, wenn die EU beim Hongkong-Gipfel politische Scheinlösungen auftischt. Im Ergebnis dessen wird mit all den protektionistischen Winkelzügen unerträglich viel Zeit zum Schaden der europäischen Allgemeinheit und der Not leidenden Menschen in den agrarisch geprägten Ländern des Südens verschwendet.
Matthias Wolfschmidt arbeitet bei der Verbraucherorganisation
foodwatch in Berlin.