Sorgen Sie dafür, dass die Vorgaben unseres Präsidenten Wladimir Wladimirowitsch Putin erfüllt werden." Aus Michail Fradkows wie immer verschlafen aussehendem Gesicht stechen die stahlblauen Augen. Der russische Premier blickt seinen am großen ovalen Kabinettstisch sitzenden Wirtschaftsminister German Gref mit wachen Augen an. Der hatte es gewagt, den Präsidenten-Plan der Verdoppelung des russischen Bruttoinlandsprodukts bis 2010 in Frage zu stellen. "Die BIP-Verdopplung muss kommen, und die Frage wird nicht weiter erörtert", faucht der Regierungschef in die Ministerrunde. Wie das zu schaffen sei, schiebt der kugelrunde Spitzenpolitiker in der ihm eigenen Art nach: "Suchen Sie geeignete Wege!"
Willkommen zurück in der Planwirtschaft, könnte man meinen. Denn tatsächlich gibt der Staat inzwischen nicht nur Planzahlen für das Wirtschaftswachstum vor. "Die russische Regierung mischt sich immer stärker in die Wirtschaft ein. Und das leider nicht als Regulator, sondern als Eigentümer, als Umlenker der Geldströme", kritisiert Boris Titow, Chef des Unternehmerverbandes "Delowaja Rossija". Das Regierungshandeln sei "nicht adäquat, sondern irrational. Deshalb haben wir weder hohes Wirtschaftswachstum noch sich mehrenden Wohlstand, geschweige denn eine sinkende Abhängigkeit von den Rohstoff-Weltmarktpreisen."
Doch nicht nur Planvorgaben haben Russland wieder weiter in die Nähe einer Staatswirtschaft gebracht: Durch die skandalträchtige Zwangsversteigerung der wichtigsten Fördertochter von Yukos, Yuganskneftegaz, im vergangenen Dezember an den Staatsölkonzern Rosneft sowie den Kauf des fünftgrößten einheimischen Ölproduzenten Sibneft durch den Gasmonopolisten Gazprom hat der Staat seine Kontrolle über die Ölbranche von sieben Prozent der Förderung Ende 2003 auf jetzt 30 Prozent ausgeweitet. "Der Staat wird auf absehbare Zeit den russischen Energiesektor beherrschen", meint Chris Weafer von der Moskauer Alfa-Bank. Neben der Energiebranche will das Indus-trieministerium 40 weitere Sektoren und Konzerne benennen, an denen sich Ausländer nur begrenzt und nach strenger staatlicher Prüfung beteiligen dürfen. Über fünf "strategisch" große Rohstoffvorkommen hat das Naturressourcenministerium gerade ein Verbot ausländischer Mehrheitsbeteiligungen verhängt. Somit steht inzwischen die Energiebranche beim Hunger des Staates auf Industrie nicht mehr allein: Der staatliche Strommonopolist UES hat sich die Mehrheit des wichtigsten russischen Turbinenbauers, Silowyje Maschiny, einverleibt. Der private Interessent an dem Maschinenbauer, die Münchner Siemens AG, kann allenfalls noch Minderheitsaktionär werden. Im Bankensektor hat die staatliche Vneshtorgbank zwei private Konkurrenten geschluckt. Die staatlich kontrollierte Sberbank und Vneshtorg sind die mit Abstand größten Geldhäuser des Landes. Im Bereich des Flugzeugbaus will die Regierung einen einheitlichen Konzern formen - unter Einschluss der bisher privaten Flugzeugfabriken und mit staatlicher Mehrheit. Den Lkw-Hersteller Kamaz hat das Kabinett gerade zum "strategischen" Unternehmen auserkoren und weitere Privatisierungspläne gestoppt. Seither rätseln Moskauer Analysten, welche Branche als nächste in die Staatsmangel genommen wird. Die lang versprochene Privatisierung des Festnetzanbieters Svyazinvest ist gerade wieder einmal auf "unbestimmte Zeit" verschoben worden - Sicherheitsbedenken der massenhaft abhörenden Sicherheitsorgane, wie ein Ministerieller verbittert mitteilt. Begleitet wird der Verstaatlichungstrend vom lauten, aber im Kreml geflissentlich überhörten Geschrei marktwirtschaftlicher Reformer. So kritisiert Wirtschaftsminister Gref: "Die Idee, dass der Staat sich immer stärker in die Wirtschaft einmischen muss, stammt aus dem Neandertal. Aber der Neandertaler ist ausgestorben und mit ihm müsste auch seine Ideologie tot sein." Putins Wirtschaftsberater Andrej Illarionow rechnet die Folgen dieser Neandertalerisierung sogar konkret vor: Venezuela sei nach der Verstaatlichung seiner Ölindustrie von einem der Staaten mit dem höchsten Pro-Kopf-BIP tief in die hinteren Ränge abgestürzt. Russland drohe der gleiche Fall, würden noch mehr Betriebe wieder Staatseigentum.
Den Absturz will Premier Fradkow mit seinen Mitteln verhindern und - im Gegenteil - Russland zum Konkurrenten auf den Weltmärkten machen: Er will die auf fast 163 Milliarden Dollar angeschwollenen Gold- und Währungsreserven sowie die gut 30 Milliarden im so genannten Stabilisierungsfonds angesammelten Dollar für ein staatliches Investitionsprogramm einsetzen. Sein Zauberwort dabei ist das der "Diversifizierung" - Russland solle weniger abhängig werden von den Rohstoffzyklen. Statt die verarbeitende Industrie oder den Dienstleistungssektor mit Steuer- und - vor allem - Bürokratieerleichterungen zu stimulieren, will Fradkow die Milliarden-Gießkanne in die Hand nehmen.
Doch nicht nur, dass er damit die Inflation weiter anheizt, deren Senkung gerade von Präsident Putin zur Staatspriorität ausgerufen wurde. Für die Investitionszulagen und die angekündigten Sonderwirtschaftszonen melden sich zudem ausgerechnet alte Bekannte: Statt innovativer mittelständischer Forscher wollen der Stromriese UES mit der Idee der Fertigstellung eines noch zu Sowjetzeiten eingemotteten Wasserkraftwerks oder der milliardenschwere Moskauer Mischkonzern AFK Sistema Geld. Trotz eigenen Börsengangs in London will der mit Moskaus Bürgermeister Jurij Luschkow eng verbundene Konzern Staatshilfen für ein obskures Elektronikprogramm. Russland solle mit eigenen Chips auf dem Weltmarkt von sich reden machen.
Immerhin ist es dem Riesenreich gelungen, durch den Ölboom seine noch 1998 in einem Finanzcrash kulminierte Krise erfolgreich abzuschütteln. Woche für Woche steigen die Devisenreserven, die Auslandsschulden gehen deutlich zurück, und die Ratingagentur Moody´s hat gerade die Bonität für russische Staatsanleihen nochmals angehoben. Die meisten Großstädte zwischen Petersburg und dem Pazifik haben sich deutlich verändert, moderne Glasfassaden geben auch vielen Rohstoff-Förderzentren ein moderneres Gesicht. Das Land schwimmt sichtbar in Petro- und Nickel-Dollars.
Aber die Gefahr einer so genannten holländischen Krankheit statt stetigen Wachstums ist nach Ansicht vieler Ökonomen keineswegs gebannt: Gelinge es Russland nicht, die einströmende Dollarflut zu stoppen (etwa durch weitere vorzeitige Schuldenrückzahlungen), würde der Rubel noch stärker aufgewertet werden und die Nicht-Rohstoffsektoren immer massiver unter Import-Konkurrenzdruck setzen. Bis Jahresende, warnt Finanzminister Alexej Kudrin, habe die Landeswährung real wieder das 1998er-Vorkrisenniveau erreicht: "Die Vorteile, die unsere Wirtschaft von der massiven Abwertung hatte, sind verfuttert." Russland drohe durch den starken Rubel zum "weltweiten Vakuumsauger" für heißes Risikokapital zu werden, das bei plötzlichem Abwandern eine neue Krise auslösen könne.
Doch nicht nur makroökonomische Gefahren drohen: Russland habe trotz imposanter Veränderungen viele seiner Hausaufgaben nicht erledigt und sein Reformtempo sogar verlangsamt, klagten die Teilnehmer des jüngsten World-Economic-Forums in Moskau. Vor allem Korruption und Bürokratie wucherten ungehemmt weiter. Das Land ist im Rating der Berliner Korruptionsbekämpfer von Transparency International gerade von Rang 90 auf 126 gefallen - gleichauf mit Sierra-Leone, Niger und Albanien.
Russland will weiterhin mehr sein als ein eurasisches Saudi-Arabien: Das Land will mit seinem noch aus Sowjetzeiten stammenden Forschungspotenzial vordere Plätze auch in den Nicht-Rohstoffindustrien einnehmen. Vor allem seit dem Untergang der UdSSR verlorene Posten im Flugzeug- und Maschinenbau sollen zurückerobert werden. Über die Wahrscheinlichkeit, dies zu erreichen, streiten allerdings Moskauer Ökonomen: "Ohne enge Kooperation mit westlichen Konzernen wird dies nicht gelingen", sagte ein prominenter Teilnehmer auf dem Moskauer World Economic Forum.
Mathias Brüggmann ist Korrespondent für das
"Handelsblatt" in Moskau.