Nicht nur Socken, übrigens. Auch DVD-Recorder, Schnitzel, Plastikspielzeug. Vieles ist erstaunlich preiswert, und genau damit beginnt das Problem. Die Deutschen selbst sind nämlich teuer. Krankenversicherung, Rentenanspruch, sechs Wochen tariflicher Urlaub - die Stunde eines Industriearbeitnehmers kostet 25,50 Euro. Der Tscheche hingegen nimmt 3,03 Euro und der Indonesier 33 Cent. Weil keiner viel Geld ausgeben will und Geiz geil ist, zerlegen Tschechen die Schweine zu Schnitzeln, schrauben Chinesen die DVD-Recorder zusammen. Und die Deutschen? Sie rennen zu Discountern und bangen um ihre Jobs, weil Unternehmer in Billiglohnländer ziehen. Willkommen in der Globalisierung.
Ein seltsames Gefühl macht sich breit, wenn man am Wühltisch über die vergangenen zwei Jahrzehnte grübelt. Nicht nur Jobs und Preise haben sich geändert, auch der Lebensstil. Man kann nach Barcelona fliegen und dort mit den gleichen Münzen bezahlen wie in Berlin-Neukölln. Manchmal kostet der Flug nicht mehr als eine Taxifahrt. Das Telefon ist zum unentbehrlichen Begleiter geworden und kein sperriger Kasten mehr, der einen beim Plaudern daheim auf die Wohnzimmercouch fesselt. Heute spielt das Handy Musik und Filme ab, sendet SMS, ist Fotoapparat, und wer es nicht dabei hat, vermisst etwas.
Wir hören Buena Vista Social Club auf Rügen und in Rom, sehen in allen Hotels CNN, trinken grünen Tee und sorgen uns, wenn in China die Vogelgrippe ausbricht, weil auch Viren heutzutage global reisen. Man bleibt zu Hause und zieht doch um die Welt, dank des Internets. Musik und Bahntickets kann man dort kaufen und Menschen treffen, denen wir früher nie begegnet wären.
Die Welt ist zusammengerückt, dank Technik, gesunkener Transportkosten, geöffneter Grenzen und Unternehmern, die im Ausland investieren. Eine neue Ära scheint sich anzukündigen.
Doch das Gefühl trügt. Globalisierung ist ein Déja vu, sie begleitet die Menschen seit langem. Die alten Griechen waren die ersten, auch wenn sie sich den Weg mit dem Schwert bahnten. Als Alexander der Große begann, die damals bekannte Welt zu erobern, verbreitete er auch den griechischen Lebensstil. Den Soldaten folgte als Nachhut Architektur, Philosophie, Kultur und Handel. Dann traten die Römer auf, brachten Kriege, aber auch Straßen und Abwässerkanäle ins Land der Germanen. Rom rückte näher.
Die Renaissance ließ die Welt erneut ein Stück schrumpfen. Neue Handelswege öffneten sich von Italien bis in den Orient, machten die Medici und Sforza reich. Das Bank- und Textilgewerbe blühte, Geld strömte nach Italien, und die Kaufleute gaben es aus für die Kultur. Die Schriften der griechischen Philosophen wurden wieder entdeckt, Leonardo da Vinci und Raffael stiegen zu Helden der Malerei auf. Was vorher Handwerk war, wurde Kunst. Später bauten die Briten ihr Kolonialreich auf, und die USA ließen die Welt auf den Spuren ihres American Way of Life wandeln, aber stets war das Muster gleich: Transport- und Kommunikationswege verkürzten sich, Lebensstile vermischten sich, auf Handel folgte Wandel.
Immer tauchten auch Fußlahme der Globalisierung auf. Die Völker, die die Griechen und Römer unterdrückten, erfuhren neben der Kultur ihrer Eroberer auch deren Knute. Die Blüte der Renaissance erfreute vor allem obere Stände, das Volk musste Hungersnöte, Seuchen und Kriege ertragen. Zum britischen Empire zählte auch der Sklavenhandel und die ausgebeuteten Kolonien, zum amerikanischen Zeitalter die Selbstherrlichkeit des Weltpolizisten aus Washington.
Das ist das Wesen der Globalisierung, ihr Doppelgesicht, Yin und Yang, wie es die chinesische Philosophie nennt. Yang kann für vorwärts, Yin für rückwärts stehen, für hell und dunkel, doch erst beide zusammen schaffen eine Einheit. "Schau dir diesen Stock an", beginnt ein Spruch des Tai-Chi. "Das eine Ende ist Yin, das andere ist Yang, welches ist wichtiger?" Die Antwort: "Der Stock selbst ist wichtig." Das Antlitz der Globalisierung war also immer da, mal offenbarten sich hässliche, mal schöne Züge.
Der Dualismus der Globalisierung bündelt sich zuweilen in einzelnen Menschen. Der Musiker Manu Chao, der in seinen Liedern das Los illegaler Einwanderer besingt, ist eine Ikone der Globalisierungsgegner. Doch seinen Erfolg verdankt er der Globalisierung, weil er auf langen Reisen seinen Stil entwickelte, Liveklänge aus südamerikanischen Bars und Radiostationen aufnahm und mit Klängen von Rock, Chanson, Reggae und algerischem Rai vermischte.
Für die Globalisierung gilt ein Standardspruch der Ökonomen: "There are no free lunches." Für alles muss der Mensch zahlen. Wir können leichter nach Osteuropa und Asien reisen, aber wir haben auch neue Konkurrenten im Kampf um internationale Märkte bekommen. Die Kommunikation ist einfacher, doch das Leben unübersichtlicher geworden. Es gibt mehr Freiraum im Beruf - und mehr Unsicherheit. Wer nicht flexibel und gut ausgebildet ist, findet in der neuen Arbeitswelt kaum einen Platz. Das soziale Netz aber kann die Nachzügler kaum aufnehmen, es dehnt sich immer stärker unter der Last von Arbeitslosen, Kranken und Alten. Es geht um Gewinner und Verlierer. Die Globalisierung produziert sie überall.
In Indien und China leben viele Gewinner. Millionen Menschen können sich dort größere Wohnungen leisten, sie hungern seltener, weil sie bessere Jobs haben. Für sie heißt Globalisierung: Du hast eine Chance, auch wenn Du nicht in den USA oder Europa geboren bist. Die Verlierer der Globalisierung leben bevorzugt in Schwarzafrika, denn um diese Region machen Konzerne und Kapital einen Bogen. Die Menschen kämpfen gegen Krieg, Korruption und Krankheiten, viele verlieren diesen Kampf. Sie haben keine Chance, die sie nutzen können.
Aber müssen wir das Doppelgesicht der Globalisierung ertragen, die hässlichen Züge einfach hinnehmen? Die Regierungen sind nicht so machtlos, wie sie manchmal behaupten. Einige Gefahren lassen sich abmildern, wenn Politiker und Institutionen pragmatischer vorgehen. Die vorschnelle Öffnung der Kapital- und Finanzmärkte, auf die der Internationale Währungsfonds gedrängt hatte, schadete einzelnen Ländern sehr und verschärfte Krisen. Der US-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz beklagt: "Die bislang betriebene Globalisierung versucht, die Diktatur nationaler Eliten durch die Diktatur der Finanzmärkte zu ersetzen."
Von den Früchten der Globalisierung werden die Menschen in den Entwicklungsländern gleichmäßiger profitieren müssen, sonst steigt die Unsicherheit, die letztlich auch uns bedroht. Die Industrieländer werden Märkte öffnen müssen, insbesondere die Deutschen. Wir als Exportweltmeister leben davon, dass Ausländer unsere Waren kaufen. Auch Hilfen sind nötig, weniger Geld, mehr Transfer von Know-how.
Auch in Industrieländern wie Deutschland leben Verlierer der Globalisierung. Die Pisa-Studie zeigte, dass viel weniger Arbeiterkinder das Abitur schaffen, als Zöglinge aus Akademikerhaushalten. Solche Unterschiede können wir uns nicht leisten. Unser wichtigster Rohstoff in globalisierten Zeiten ist Wissen. Diesen Schatz müssen die Politiker besser fördern.
Vielleicht sind auch einige Ruhezonen nötig, um den Prozess zu entschleunigen. Soll etwa Osteuropa dem Westen näher rücken, dürfen nicht alle hiesigen Errungenschaften in der Sozialpolitik oder dem Umweltschutz wegfallen. Andernfalls sehen die Menschen in dieser Globalisierung nur Nachteile und sperren sich dagegen. Die Angst in den Köpfen ist da und sie wächst. Debatten über den Abbau des Kündigungsschutzes sind da wenig hilfreich, zumal der wirtschaftliche Vorteil fragwürdig ist. In dieser rasenden Welt sind Wegmarken nötig. Manche können die Politiker stecken, wenn sie Schützenswertes erhalten. Der Markt allein ist nicht gerecht, die Globalisierung auch nicht. Andere dieser Wegmarken müssen wir uns selber suchen, uns fragen, was im Leben wichtig ist. Unser Dasein besteht aus mehr, als billig zu reisen, einen DVD-Recorder zu kaufen. Der Mensch lebt schließlich nicht allein wegen der Socken.
Andreas Hoffmann ist Korrespondent in der Parlamentsredaktion der
"Süddeutschen Zeitung".