Angela Merkel kann diesem Tag mit einiger Gelassenheit entgegenblicken: Nach einem extrem giftig geführten Wahlkampf, nach dem Verpassen des prognostizierten Sieges der anvisierten schwarz-gelben Koalition, nach einem zermürbenden Kampf um den Anspruch auf das Kanzleramt mit Gerhard Schröder und den damit verbundenen mühseligen Koalitionsverhandlungen mit der SPD und nach den wenig hilfreichen München-Berlin-München-Capriolen von Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) hat Deutschlands erste Bundeskanzlerin die von allen politischen Parteien so gefürchtete zweite Große Koalition der Bundesrepublik in unerwartet ruhiges Fahrwasser gesteuert. Nicht, dass die Probleme des Landes seit dem Amtsantritt am 22. November 2005 kleiner geworden wären, aber schon lange war die Stimmung im Land nicht mehr so gut wie im Augenblick - das sagen zumindest die Meinungsforscher: 42 Prozent der Deutschen sind zufrieden mit dem bisherigen Erscheinungsbild der Regierungskoalition und 68 Prozent bescheinigen Angela Merkel, ihre Arbeit gut zu machen.
Erneut drängt sich der Verdacht auf, dass Angela Merkel einmal mehr unterschätzt wurde. Ausgerechnet in der Außenpolitik - dort verortete Bundeskanzler Schröder im Wahlkampf mit die größten Defizite seiner Herausforderin - feiert die Kanzlerin derzeit ihre größten Erfolge. Auch die prophezeite "Anbiederung" an die USA gestaltete sich so ganz anders als behauptet: Selbstbewusst und souverän bescheinigte sie den USA, im CIA-Entführungsfall des deutschen Staatsbürgers Al Masri einen "Fehler" gemacht zu haben und dass das Gefangenenlager auf Guantanamo zu schließen sei. Ebenso selbstbewusst schrieb sie dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ins Stammbuch, dass es mit den Menschenrechten in seinem Reich nicht zum Besten stehe.
Auch im schwelenden Atom-Konflikt mit dem Iran hat Angela Merkel gepunktet. Beharrlich setzt sie auf eine Verhandlungslösung, vermeidet möglichst das Wort von der "militärischen Option", ohne sie deswegen ausdrücklich auszuschließen. Als SPD-Chef Matthias Platzeck hingegen in einem Interview forderte, diese müsste "vom Tisch", stieß er damit nicht auf die ungeteilte Zustimmung in seiner Partei.
Da mag noch so mancher Unionsanhänger über die "Sozialdemokratisierung" seiner Partei vor sich hin schimpfen, da mag noch mancher SPD-Abgeordnete sich schwer damit tun, ausgerechnet jene Frau im Bundestag zu beklatschen, die er noch vor wenigen Wochen auf das Schärftse verbal traktiert hatte, die Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin wagt derzeit niemand mehr öffentlich in Frage zu stellen - auch in den eigenen Reihen nicht. Der von Horst Seehofer geprägte Satz, "Wer Angela Merkel unterschätzt, hat bereits verloren", ist weiterhin gültig.
Des einen Freud, des anderen Leid - denn auch dies sagen die Demoskopen: Während die Union bei der berüchtigten Sonntagsfrage bei knapp über 40 Prozent liegt, sind die Sozialdemokraten auf die 30-Prozentmarke zurückgefallen. Auch wenn die Parteistrategen im Konrad-Adenauer- und im Willy-Brandt-Haus gerne auf das Prognose-Debakel der vergangenen Bundestagswahl verweisen, so schielen sie dennoch nach der Quote. Was die guten Werte für die Union und Angela Merkel wirklich wert sind, darüber könnten die Landtagswahlen am 26. März in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt erstmals Auskunft geben. Zwar lassen die besonderen Konstellationen in diesen drei Ländern (siehe Berichterstattung auf Seite 9) nur bedingt Rückschlüsse auf die bundespolitische Stimmungslage zu, trotzdem gelten die ersten Landtagswahlen nach einer Bundestagswahl als erste Testläufe für die Regierung.
Vor diesem Hintergund ist die Vermutung, dass eines der ersten großen Vorhaben der Regierung - die Reform des Gesundheitswesens - ganz bewusst hinter die Landtagswahlen geschoben wurde, nicht von der Hand zu weisen. Denn wie empfindlich wahlkämpfende Landespolitiker auf politische Marschrichtungen reagieren, die derzeit in Berlin ausgegeben werden, zeigte sich kürzlich am handfesten SPD-internen Streit zwischen Vizekanzler Franz Müntefering und dem rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck über ein Vorziehen der Rente mit 67. Die anstehende Gesundheitsreform war bereits in den Koalitionsverhandlungen ausgespart worden - zu unterschiedlich waren die Vorstellungen von Union und SPD. Klar ist bislang nur: Die Reform soll bis Anfang 2007 auf den Weg gebracht werden.
Es ist vor dem Amtsantritt von Angela Merkel viel darüber spekuliert worden, welchen Führungsstil die erste Frau im Bundeskanzleramt pflegen wird. Nun ist es einfach, aus einem "Bundeskanzler" sprachlich eine "Bundeskanzlerin" zu machen, aber bei einem Attribut wie "staatsmännisch" versagt der deutsche Polit-Wortschatz bereits. Nur ein kleiner Hinweis darauf, dass es eben keine Selbstverständlichkeit ist, dass nun eine Frau die Geschicke des Landes bestimmt. Ob überhaupt ein explizit "männlicher" oder "weiblicher" Führungsstil existiert, sei dahingestellt - Angela Merkel hat sich für den ihren schon lange vor ihrer Kanzlerschaft entschieden: Sie pflegt einen sachlichen. Weder die große Pose, noch die große Rhetorik sind ihre Sache. Die in ihrer Regierungserklärung ausgegebene Parole von den "kleinen Schritten" dürfte nicht nur ihrem Naturell entsprechen, sondern auch eine bewusste Reaktion auf die Erwartungen an die Große Koalition darstellen.
Denn die Erwartungen auf Seiten der Bürger sind groß - schließlich verfügt die Regierung über komfortable Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat. Das Wort "Blockade" mag in Deutschland niemand mehr hören. Die großen Probleme des Landes - Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, Sicherung der Sozialsysteme - sollen nun endlich im gemeinsamen Handeln der beiden Volksparteien gelöst werden. Umso geschickter ist es von der Kanzlerin, wenn sie die Erwartungen an schnelle Lösungen dämpft. Geschickt ist es auch, die ersten "Grausamkeiten" - etwa die Anhebung der Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte ab 2007 - und unbequeme Wahrheiten - das Kabinett wird in dieser Woche einen nicht verfassungskonformen Bundeshaushalt vorlegen - gleich zu Beginn der Regierungszeit zu verkünden.
Am Abend des 1. März endet aber nicht nur der 100. Tag der Großen Koalition. Auch die Opposition kann dann eine erste Bilanz ziehen - und die dürfte sehr unterschiedlich ausfallen. Da wären zum einen die Liberalen: Sie hatten keine großen Probleme, sich auf den "harten Bänken" der Opposition zurechtzufinden, schließlich saßen sie dort auch in den vergangenen sieben Jahren. Den kurzen Machtkampf nach der Bundestagswahl um den Fraktionsvorsitz, den Wolfgang Gerhardt im Mai an den Parteivorsitzenden Guido Westerwelle abtreten wird, überstand die FDP ohne Nachwehen. Und den Liberalen wird in der laufenden Legislaturperiode als größter der drei Oppo- sitionsfraktionen nun auch die größte Beachtung als Gegenspieler zur Regierung entgegengebracht.
Freuen konnte sich zunächst auch die Linkspartei über ihren Einzug als zweitstärkste Oppositionsfraktion in den Bundestag. Doch ihr schlug von Anfang an ein eisiger Wind entgegen, als Lothar Bisky in vier Wahlgängen nicht die erforderliche Mehrheit erreichte, um auf einem der fünf Bundestags-Vizepräsidenten-Sessel Platz nehmen zu können. Entnervt gab Bisky auf, der für die Linksfraktion reservierte Präsidiums-platz ist bis heute unbesetzt. Als wäre dies nicht genug, ging ihr mit dem Fraktionsaustritt des Abgeordneten Gert Winkelmeier nun auch noch ein Mandat verloren (siehe Seite 26). Und die Politiker von PDS und WASG mussten feststellen, dass die von ihnen eingeleitete bundesweite Fusion zur Linkspartei mit allerlei Schwierigkeiten verbunden ist, wie die Beispiele in Berlin und Sachsen-Anhalt zeigen.
Schwer tun sich derzeit auch die Grünen. Nach sieben Jahren Regierungsbeteiligung hat sie der Wähler zur kleinsten Oppositionsfraktion degradiert. Zwar wählten sie sich mit Renate Künast und Fritz Kuhn ein bereits vertrautes Duo an die Fraktionsspitze, aber der verkündete Generationswechsel lief dann doch nicht so rund, wie erhofft. Ein Joschka Fischer kann eben auch aus der zweiten Reihe für Unruhe sorgen, wie sich im Streit über die Einsetzung eines BND-Untersuchungsausschusses zeigte. "Opposition ist" zwar "kein Mist", wie Claudia Roth betonte, aber es ist auch nicht einfach, sich in ihr zurechtzufinden. Aber bis Aschermittwoch sind es ja noch ein paar Tage.