Einleitung
Im März 1949, nach zehn Jahren Sowjetunion und vier Jahren Tätigkeit als zentraler Funktionär der SED und Lehrer an der Parteihochschule Karl Marx in Kleinmachnow, bin ich über Prag nach Jugoslawien geflohen. Im November 1950 kam ich von Jugoslawien in den Westen. Ich habe mich aber weiterhin nur mit dem Osten befasst. Und ich wurde immer kritischer. Schon seit 1937, als ich die Massenverhaftungen in Moskau erlebte, suchte ich nach Alternativen. Aber nicht nach Alternativen im Westen, sondern nach Alternativen im Rahmen des Kommunismus. Wie kann man das Ganze anders machen, besser, demokratischer und humaner?
Nun, im Westen, las ich fast ständig Bücher über die Sowjetunion. Damals war es etwa so: 95 Prozent totale Verurteilung ohne Wenn und Aber; fünf Prozent, in denen alles verherrlicht wurde. Ich hatte mir zum Ziel gesetzt, so ehrlich wie möglich und vor allem so differenziert wie möglich die Realität zu schildern. Ich wollte erklären, warum so viele Menschen in der Sowjetunion dafür waren und wieso es so lange dauert, ehe man sich von der stalinistischen Ideologie lösen kann. Es war mir aber auch wichtig, meine Lebenserfahrungen nicht ohne die politischen Zusammenhänge darzustellen. Viele Bücher über die Sowjetunion waren mir in einer zu abstrakten Politikwissenschaft gehalten. Die anderen waren subjektiv, aber ohne Bezugnahme auf die Ereignisse.
Ich war schon fünf Jahre im Westen, als 1955 mein Buch "Die Revolution entlässt ihre Kinder" erschien. Es war eines der wenigen Bücher seiner Zeit, in dem der Leser objektiv und sachlich die Widersprüche erkennen konnte und nicht nur eine Totalverurteilung oder eine Totalverherrlichung. Die Herausgabe des Buches fiel in die Zeit der Vorbereitung des XX. Parteitags der KPdSU, der am 14. Februar 1956 begann. Meine Gedanken kreisten um die Frage, was auf diesem Parteitag geschehen werde. Damals begann für mich, hier im Westen, der Tag mit der Lektüre zweier Zeitungen, nämlich der sowjetischen Parteizeitung "Prawda" und des SED-Organs "Neues Deutschland". Beide hatte ich seit Anfang 1952 abonniert. Anfangs waren sie inhaltlich identisch - bis zum 5. März 1953, dem Todestag von Stalin. Dann änderte sich das Bild: Im "Neuen Deutschland" fand eine totale Verherrlichung von Stalin statt, in der "Prawda" aber nicht. Der Name Stalins verschwand ganz schnell aus der Zeitung. Ich unterstrich alle kritischen Passagen, die damals in der "Prawda" über Stalin zu finden waren. Danach las ich das "Neue Deutschland", aber die Hälfte der von mir begeistert angestrichenen Stellen gab es in der SED-Zeitung überhaupt nicht. Es gab einen unglaublichen Widerspruch in der Berichterstattung; diese Tatsache war für mich das Interessanteste. 1
So ahnte ich, dass man beim XX. Parteitag mit einer großen Abkehr von Stalin würde rechnen müssen. Bereits mein erster Artikel in der Bundesrepublik Deutschland, am 28. Mai 1953, zwei Monate nach Stalins Tod, trug die Überschrift "Stalin ist abgemeldet!" Es wurde - mit geringer Einschränkung - weder im Westen noch im Osten erkannt, was sich damals in Moskau abspielte. Auch die SED-Führung hatte gar nicht mitbekommen, was das für den bevorstehenden sowjetischen Parteitag bedeutete. Im Dezember 1954 - ich arbeitete damals für die Zeitschrift "SBZ-Archiv", das spätere "Deutschland Archiv" - sagte ich voraus, man werde vom Parteitag erwarten, dass sich die sowjetische Führung unter Chruschtschow offen von Stalin lossagen und ihn aufs Schärfste kritisieren werde. Bis dahin hatte sie sich von Stalin lediglich entfernt, ohne ihn direkt anzugreifen. Jetzt werde mit dem Angriff und mit der Distanzierung der entscheidende Schritt erfolgen.
Dann erlebten wir die Eröffnung des XX. Parteitags am 14. Februar 1956 und sahen: Es gab keine Stalin-Bilder mehr. Auf einem sowjetischen Parteitag keine Stalin-Bilder - das war schon atemberaubend! Chruschtschow hatte Stalin als Person überhaupt nicht erwähnt. Lediglich ein Hinweis auf drei mittlerweile verstorbene führende Genossen: Tokuda in Japan, irgendjemand anderes und eben Stalin. Mehr nicht. Da wusste man sofort, wie die Entwicklung weitergehen würde. Meist reden alle immer nur von Chruschtschows "Geheimrede" vom 25. Februar, aber die offiziellen Verlautbarungen vom Parteitag, also die offiziellen Reden vom 14. bis zu jenem 25. Februar, sagten bereits sehr viel aus. Mit dem Geheimreferat war dann die Spitze erreicht.
Die Hoffnung von uns geflohenen, kritischen ehemaligen SED-Leuten war groß, dass Chruschtschow mit seiner Rede, mit der Entstalinisierung, mit der Loslösung von Stalin wichtige Prozesse in Gang setzt, die die sowjetische Realität verändern werden. Meine Freunde und ich trafen uns damals häufig in dem kleinen Ort Kasbach bei Linz am Rhein. Professor Löwenthal von der FU Berlin fragte dort einmal Inge, die Frau von Gerhard Zwerenz: "Seit wann seid ihr verheiratet?" Triumphierend sagte Inge: "Drei Wochen nach dem XX. Parteitag." Das war die Welt, in der wir lebten.
Wir hofften, und diese Hoffnung war nicht vollkommen unbegründet, denn Chruschtschow ist ja einiges gelungen. Ich schätze seine Rede vom 25. Februar 1956 nicht als halbherzige Offenbarung ein, sondern als bedeutsamste Rede in der Geschichte des Kommunismus. Natürlich gab es auch Einseitigkeiten. Aber sie war, bei allen Mängeln, so weitgehend wie keine andere Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit - weder vor noch nach dieser Rede. Seitdem sind 50 Jahre vergangen. Inzwischen gibt es keinen sowjetischen Kommunismus mehr, aber im heutigen Russland kann man eine solche Rede nicht mehr verbreiten. Das ist vollkommen ausgeschlossen. In den vergangenen 50 Jahren ist nichts Wichtigeres geschehen in der Aufarbeitung. Der XX. Parteitag hat damals innerhalb der Marxisten, der langjährigen Kommunisten und Ex-Kommunisten total entgegengesetzte Reaktionen ausgelöst. Wir haben uns unbändig gefreut. Es war eine große Hoffnung. Ich kenne aber auch andere, die waren entsetzt und hielten Chruschtschow für einen Verräter.
Chruschtschow war ursprünglich ein eiserner Stalinist. Ich werde den 30. Januar 1937 in der Sowjetunion nie vergessen. Ich war damals fast 16 Jahre alt. Chruschtschow sprach auf dem Roten Platz, und an diesem Tag war ich dort. Er schrie: "Diese nichtsnutzigen Verbrecher, die erhoben ihre Hand gegen unseren Genossen Stalin, unseren Führer." Ich war damals schon kritisch. Die Säuberung war bereits im Gange und meine Mutter schon ein halbes Jahr in Workuta, als ich das hören musste. Ich merkte: Der ist absolut überzeugt. Chruschtschow war damals ein absolut überzeugter stalinistischer Kommunist. Erst als er in die Spitze und ins Politbüro kam und gegen Ende der vierziger Jahre in die Umgebung Stalins aufrückte, erkannte er plötzlich die wirkliche Situation in der Sowjetführung. Und erst später wurde er dann kritisch und oppositionell. Das ging so weit, dass er nach Stalins Tod seine große Hoffnung zu verwirklichen suchte: Man muss den Stalin'schen Abschaum beseitigen, man muss die ursprüngliche kommunistische Reinheit wiederherstellen. Man muss selbst alles offen aussprechen. Und indem man es offen ausspricht, wird die kommunistische Bewegung wieder stärker und überzeugender. Dann wird es einen Aufschwung geben. Der Kommunismus ohne diese Stalin-Verbrechen, das wird unsere Hoffnung sein. Aber da hatte er sich verrechnet.
Später erfuhren wir: Es gab nach Chruschtschows Rede keinen Beifall. Alle Teilnehmer an jenem 25. Februar 1956 waren entsetzt. Wahrscheinlich hat Chruschtschow bereits in diesem Moment gemerkt: Das schaffen wir nicht. Stalin war inzwischen schon so untrennbar mit allem verbunden, dass nur eine Minderheit bereit war, den Versuch zu wagen, den Kommunismus von den Verbrechen zu befreien. Es hat sich ja später gezeigt, dass esein unglaublicher Kampf war, der sich inderSowjetunion abspielte. Die Anhänger Chruschtschows waren in der Minderheit. Es war die Minderheit, die einen entsetzlich schweren Kampf führte. Aber bei aller Einseitigkeit, die es da manchmal auch bei Chruschtschow gab, bei allen Mängeln und Unzulänglichkeiten: Das Chruschtschow'sche Geheimreferat hat eine viel größere Bedeutung in der sowjetischen Geschichte, als es heute sogar von Nichtkommunisten und den Putin-Leuten zugestanden wird.
Heute kommt es darauf an, die zweifache - im Einzelnen unterschiedliche - Diktaturerfahrung genau aufzuarbeiten. Ich war in der Kominternschule, wo wir den Nationalsozialismus so genau durchnahmen, dass ich nach 1945 keinen Nazi fand, der auch nur die Hälfte dessen wusste, was wir dort gelernt hatten. Ich habe da womöglich ein Patentrezept, denn bisher ist es das Schlimme: Entweder gibt es zwei Sätze auf einer Talkshow oder es gibt 500 Seiten in einem Buch. Mein Traum wären Erklärungen über entscheidende Aspekte der Diktatur auf 30 Seiten. Auf 30 Seiten kann man alles Wichtige über einzelne Ereignisse, Personen oder Aktionen sagen.
Das Zweite, was ich mir für den Umgang mit Diktaturen wünsche, sind positive Beispiele. Selbst ich, der ich unmittelbar betroffen war, kann es manchmal nicht mehr ertragen, immer nur über Entsetzen und grauenvolle Dinge zu lesen. Ich wünsche mir, dass man mehr über die positiven Beispiele berichtet, über die mutigen Menschen in der Sowjetunion, in NS-Deutschland oder in der DDR. Es hat ja nicht nur Inoffizielle Mitarbeiter gegeben, sondern sehr mutige Menschen, die sich weigerten, das zu werden, und mutige Menschen, die von Agenten umringt waren und das überstanden haben. Ich wünsche mir positive Beispiele, wie es mutige Menschen in Diktaturen geschafft haben, nicht mehr als die allerkleinsten notwendigen Konzessionen zu machen, sondern als ehrliche Menschen aufrecht gewesen sind. Ich bin sehr für diese positiven Darstellungen, um Beispiele zu schaffen und die Idee des mündigen Bürgers deutlich werden zu lassen. In einer Demokratie möglichst viele mündige Bürger zu haben, die selbstständig denken und frei diskutieren - das ist das Entscheidende. Daran mitzuwirken wäre mein Wunsch für die Auseinandersetzungen mit den beiden Diktaturen der Vergangenheit.
1 Dieser Essay und
der folgende von Ralph Giordano beruhen auf den Ausführungen
der beiden Autoren bei der Veranstaltung "Die SED, ihr MfS und das
Krisenjahr 1956" am 15.1. 2006 im Deutschen Historischen Museum in
Berlin. Das Zeitzeugengespräch moderierte Ulrich Mählert
von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Das
vollständige Protokoll des Gesprächs erscheint Ende Mai
im "Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung
2006".