Dass der deutsche Sozialstaat, wie er unter Reichskanzler Otto von Bismarck in seinen Grundzügen entstand, sich in einer tiefen Krise befinde, scheint in der öffentlichen Diskussion Allgemeingut zu sein. Die Globalisierung und die Alterung der Gesellschaft erfordere mindestens seinen Umbau oder gar, wie besonders radikale Neoliberale meinen, seinen Abriss. In einem Land, in dem es als europäische Ausnahme mit den Unionsparteien und der SPD traditionell gleich zwei Sozialstaatsparteien gibt, verwundert dies schon etwas. Für Christoph Butterwegge, einem Befürworter der Erhaltung des bismarckschen Modells in seinen Grundstrukturen, liegt das daran, dass sowohl die SPD als auch die CDU sich von ihren sozialstaatlichen Wurzeln ab- und der neoliberalen Ideologie zugewendet haben.
Butterwegge legt sein material- und zitatreiches Buch chronologisch an. In den ersten beiden Kapiteln wird eine akribische Begriffserklärung ebenso geliefert wie eine Geschichte des "paternalistischen" deutschen Sozialstaates von der Entstehung bis zur ersten großen Wirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg in der Mitte der 70er-Jahre des vorigen Jahrhunderts. Dargestellt wird die Besonderheit des deutschen Sozialmodells, das für die große Mehrheit eine Absicherung nach dem Versicherungsprinzip vorsieht. Zunächst die gesetzliche Renten-, die Kranken- und die Unfallversicherung, später die Arbeitslosen- und schließlich die Pflegeversicherung funktionieren nach dem Umlageverfahren. Verbunden mit dem "Normalarbeitsverhältnis" erwerben die Beitragszahler Rechtsansprüche auf Sozialleistungen, wenn sie zuvor Beiträge entrichtet haben.
Darin sieht Butterwegge erhebliche Vorteile für die Mehrheit der Bevölkerung. Zunächst sei es rechtlich und psychologisch ein erheblicher Unterschied, ob Leistungen aufgrund gezahlter Beiträge oder - wie etwa bei der Sozialhilfe - als "Almosen" vom Staat bezogen würden. Die letzthin als relativ erfolglos bewerteten Hartz-Reformen, vor allem die Einführung des Arbeitslosengeldes II, bedeuteten die Abkehr vom Versicherungsprinzip und die Aussteuerung älterer Langzeitarbeitsloser aus der Arbeitslosenversicherung mit gravierenden Belastungen für die Betroffenen infolge der damit verbundenen Steuerfinanzierung.
Während eine solche Umsteuerung der sozialen Sicherung von der Beitrags- zur Steuerfinanzierung oft mit Hinweis auf das erfolgreiche skandinavische Wohlfahrtsmodell empfohlen wird, beharrt der Kölner Politikprofessor auf dem Versicherungsprinzip. Zum einen warnt Butterwegge vor der Abhängigkeit steuerfinanzierter Wohlfahrtsleitungen von der jeweiligen Haushaltslage. Mit Verweis auf die Finanzkrise des Staates fragt er, wie denn die Sozialleistungen auf dieser Basis gesichert werden könnten.
Der Autor neigt indes nicht zu uneingeschränktem Strukturkonservativismus. Defizite des deutschen Sozialstaates, die sich vor allem aus seiner Orientierung am (männlichen) "Normalarbeitsverhältnis" ergeben, benennt er ebenso wie Alternativen innerhalb des beitrags- und umlagefinanzierten Systems.
Im Anschluss an eine Darstellung des Modells der Bürgerversicherung bei der Krankenversicherung fordert Butterwegge die Übertragung dieses Vorschlages auf die gesamte Sozialversicherung. Die bisherige Aufspaltung der Sicherungssysteme - neben Sozialversicherung und Sozialhilfe vor allem die private Absicherung und die Beamtenversorgung - sei angesichts der geforderten und auch faktisch vorhandenen vertikalen und horizontalen Mobilität nicht mehr zeitgemäß. Alle Beschäftigungs- und Erwerbsformen müssten in die Sozialversicherung einbezogen werden.
Wer mit guten sozialen und volkswirtschaftlichen Gründen gegen den weiteren Abbau des Sozialstaates eintreten will, hat mit diesem fundierten Buch einen hervorragenden Fundus an Material und Argumenten zur Verfügung.
Christoph Butterwegge:
Krise und Zukunft des Sozialstaates
Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005;
320 S., 24,90 Euro