Sommersemester 1994 am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg. Es ist kurz vor 20 Uhr an einem Freitagabend: Mein Dozent scheint wild entschlossen, zum Ende seiner Lehrveranstaltung "Buchrezensensionen zur deutschen Gegenwartsliteratur" eine kleine Kulturrevolution zu initiieren: "Nächste Woche machen wir eine Stunde früher Schluss. Danach können alle, die wollen, mit mir zusammen hier Fußball schauen - Brasilien gegen Kamerun. Ich spendiere auch eine Kiste Bier." Der Rest seiner Ankündigung zum gemeinsamen Fernseherlebnis der Fußball-Weltmeisterschaft in den USA ging unter im demonstrativen Beifall eines vorwiegend männlichen Studentenlagers und lautstarker Proteste weiblich-intellektueller Hardcore-Literaten.
Ich erzähle diese Geschichte nicht deswegen so gern, weil besagter Dozent mir als bekennendem Bildschirm-Fußballer mein intellektuelles Selbstbewusstein zwischen all den angehenden Literaturpäpsten und -päpstinnen stärkte, sondern weil sie so herrlich klischeebeladen ist: Frauen verstehen nichts von Fußball, wollen auch nichts davon verstehen. Und Intellektuelle wissen vom Fußball nur, dass sie mit diesem "Proletensport" nichts zu tun haben wollen.
Andreas von Seggern hat das schwierige Verhältnis von Intellektuellen zum Fußball auf 30 höchst vergnüglich zu lesenden Seiten beschrieben - eine gnadenlose Abrechung mit all den ignoranten Schöngeistern: ",Sinnloser als Fußball ist nur das Reden über Fußball'. Martin Walsers Diktum über die vermeintliche Unvereinbarkeit zweier kultureller Phänomene - Marcel Reich-Ranicki sprach gar in diesem Zusammenhang von den ,zwei feindlichen Brüdern Fußball und Literatur' - drückt all den kläglichen Dünkel aus, dem sich die weltweit populärste Sportart seit Jahrzehnten innerhalb intellektueller Diskurse ausgesetzt sieht."
Doch von Seggern kann - sichtlich zufrieden - beruhigen: Im Abseits stünden heute jene Autoren, "die weiterhin in distinguierter Entrücktheit ihre Ressentiments (...) pflegen"; mehr und mehr Schriftsteller erlägen der Versuchung, "sich in nur jeder denkbaren literatrischen Form zum führenden sportlichen Massenphänomen zu äußern". Nur auf einen großen deutschen Fußballroman, wie ihn der britische Autor Nick Hornby mit "Fever Pitch - Ballfieber" vorgelegt habe, müsse man in Deutschland noch warten.
Welch "poetisches Potenzial" in der Welt des Fußbals stecke, so der Autor, enthülle beispielsweise die Wiedergabe des aufdringlichen Sportkommentars des Reporters Heribert Fassbender während der Europameisterschaftspartie Italien gegen Deutschland von 1996. Mir wäre zwar nie in den Sinn gekommen, ausgerechnet Fassbender mit Poesie zu verbinden, aber bitte - "Mr. Sportschau" im Orginalton:
"Freistoß für die Italiener, Torentfernung fünfundzwanzig Meter,
Zola macht das.
Mussi.
Ziege.
Häßler.
Klinsmann!
Casiraghi.
Strunz, der früher mal in Stuttgart war und jetzt natürlich wieder bei Bayern spielt. Helmer, Freund.
Und Zola in Abseitsposition.
Andy Möller.
Klinsmann.
Mussi.
Bobic stört. Regelwidrig.
Carboni. Kommt vom AS Rom."
Beim Thema italienischer Fußball wären wir dann auch beim zweiten Klischee: Frauen und Fußball. Es gibt wohl kein Thema mehr, bei dem Mann seinen Machismo so ungehemmt artikulieren darf. Es spielt überhaupt keine Rolle, dass Deutschlands Frauen-Nationalelf Weltmeister ist oder dass Frauen heute ganz selbstverständlich führende Sportsendungen moderieren - Frauen erfreut am Fußball allenfalls die Optik der Spieler aus südlichen Gefilden. Schließlich sagen es die Frauen ja selbst: Sie verstehen nichts von Fußball. Selbst die wenigen "Verstehenden" wie etwa Gaby Papenburg, sie moderierte die Fußballsendung "ran" bei SAT1, und Annette Pilawa, als CvD überwacht sie beim DSF die Ausstrahlung von Bundesliga-Spielen, bescheinigen ihren Geschlechtgenossinnen in ihrem "Raus aus der Abseitsfalle" völlige Ahnungslosigkeit in Sachen Kicken. Und nicht nur das: Frau "spürt nichts von dieser Faszination, der Geschwindigkeit, der Komplexität und dem Kampf Mann gegen Mann, bei dem es gefühlsmäßig immer um Leben und Tod geht". Und: "Frauen können das eigentlich auch gar nicht verstehen. Denn es gibt nichts Vergleichbares, was sie - egal, welcher gesellschaftlichen Herkunft - im Kollektiv genauso eint wie Männer der Fußball."
Diesem Urteil muss ich nun doch einige Erinnerungen entgegenhalten. Mir fallen auf Anhieb dutzendweise Frauen ein, die es in Sachen Gefühlsausbrüche beim Fußball mit jedem männlichen Fan aufnehmen können. Ich erinnere mich zum Beispiel an die Mutter eines Klassenkameraden, der im heimatlichen VFR Frankenthal im Sturm spielte, und ihren Filius mit einem "Manni, mach ihn nass!" bis vor das gegnerische Tor brüllte. Oder meine Mutter: Ihre verbalen Entgleisungen während des Elfmeterschießens beim legendären WM-Halbfinale Deutschland-Frankreich 1982 in Spanien habe ich heute noch im Ohr. Und ich habe noch nie so viele Frauen einfühlsam heulende Männer trösten gesehen als "mein" 1. FC Kaiserslautern 1996 in die 2. Liga abstieg.
Im Grunde präsentieren Papenburg und Pilawa nicht mehr als einen kleinen, flott geschriebenen Reiseführer durch die Welt der Fußball-WM: Über Regeln, Technik, Taktik, Spieler, Mannschaften und ihre Trainer - eben nur ein wenig aufgepeppt durch Geschlechterkrieg à la "Sex and the City". Und derzeit verkauft sich sowas anscheinend ganz gut, neben "Raus aus der Abseitsfalle" erschien annähernd titelgleich das Buch "Abseitsfallen - so überleben Frauen die Fußball-WM" von Harald Braun und Julia Möhn.
Die zwischen Mann und Frau so gänzlich anders gearteten Betrachtungweisen des Fußballs hat auch die Buchautorin Lusia Francia in ihrem "Ballzauber" aufgegriffen. Seit Jahren beschäftigt sie sich mit dem Thema Magie, schrieb diverse Bücher dazu, reiste quer durch die Welt auf den Spuren von Heilritualen und Schamanismus, und präsentiert nun folgerichtig zur WM ihr neuestes Werk über "Die Magie des Fußballs". Sie schreibt über all die Figuren, die sich auf dem "heiligen Rasen" tummeln: Über "Lichtgestalten" wie Franz Beckenbauer, "Fußballgötter" wie Gerd Müller, "Ballzauberer" wie Zinedine Zidane, die "Hand Gottes" beziehungsweise die von Diego Maradona und jene "Priester" wie Günter Netzer und Gerhard Dellinger, die in "theologischen Diskussionen streng über die Regeln des Kults wachen". Luisa Francia schafft es, wirklich jeden Aspekt des Spiels mit dem runden Leder im Sinne religiöser und archaischer Verhaltensmuster zu deuten. Fußball als Ausdruck in allen Kulturen tief verwurzelter Grundbedürfnisse und ihrer Tabus - bis hin zum Sex. An dieser Stelle erfahren wir dann auch, warum Frauen und Männer Fußball so verschieden erleben. Insgesamt ist das Buch der lesenswerten Erklärung, warum Fußball die Menschen in allen Teilen der Erde begeistert.
Doch diese Begeisterung verbindet Menschen nicht nur, sie entzweit sie auch. Vor allem bei Weltmeisterschaften. Man muss Fußball nicht gleich als "Krieg ohne Schießen" wie George Orwell bezeichnen, aber welcher Zündstoff in diesem Spiel steckt, hat sehr eindrucksvoll der polnische Journalist Ryszard Kapuscinski in seinem Buch "Fußballkrieg" beschrieben: Zwei WM-Qualifikationsspiele zwischen Honduras und El Salvador ließen die nationalen Emotionen so hoch schlagen, dass sich die angespannten Beziehungen zwischen beiden Staaten explosionsartig in einem Krieg entluden, der 3.000 Menschenleben forderte.
Christian Eichler, Europakorrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" hat eine spannende Darstellung nicht nur über die sportlichen Aspekte der "legendären Spiele" der deutschen Nationalelf gegen die Teams von Holland, Frankreich, Italien und anderer "Lieblingsgegner" geliefert, sondern beschreibt auch, zu welchen handfesten Verstimmungen - oft von der Presse angeheizt - diese im Verhältnis zwischen den Völkern des Stadions führten. So weit muss und soll es natürlich nicht kommen, "die kleinen und großen Klischees, die praktischen Vorurteile gegenüber anderen Nationen die sich am Beispiel des Fußballs so griffig konkretisieren und zuspitzen lassen", seien nichts für Humorlose. "Der moderne Fußballfan hat ihn, diesen Humor", schreibt Eichler. Hoffentlich hat er Recht.
Bliebe am Ende noch das Klischee vom "meistgehassten Mann" auf dem Platz. Den Schiedrichtern und ihren wenigen Kolleginnen, die meist nur bei umstrittenen Entscheidungen oder wie jüngst im Zusammenhang mit der Manipulation von Spielen in den Fokus des Interesse rücken, hat das Stadtgeschichtliche Museum Leipzig die Ausstellung "Herr der Regeln. Der Fußball-Referee" gewidmet. Wer bis zum 30. Juli den Weg in die Ausstellung nicht findet, dem sei das gleichnamige, lesenswerte Begleitbuch empfohlen. Klischees, Legenden und Mythen garantiert. So ist eben Fußball - auch.
Christian Eichler:
Deutschland, deine Lieblingsgegner.
Die legendären Spiele der deutschen Nationalmannschaft.
Eichborn, Frankfurt am Main 2006; 254 S., 16,90 Euro
Luisa Francia:
Ballzauber. Die Magie des Fußballs.
Nymphenburger Verlag, München 2006; 157 S.,
14,90 Euro
Gabi Papenburg / Annette Pilawa:
Raus aus der Abseitsfalle.
Das Fußballbuch für Frauen.
Egmont vgs Verlagsgesellschaft, Köln 2006; 10,90 Euro
Andreas von Seggern:
Ins Abseits dichten? Fußball literarisch.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006; 30 Seiten, 9,50 Euro
Schadtgeschichtliches Museum Leipzig (Hg.):
Herr der Regeln. Der Fußball-Referee.
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2006; 199 S., 25 Euro