Und Jürgen Klinsmann? Wie viel Merkel steckt in ihm? Verbindet die beiden wichtigsten deutschen Teamchefs mehr als die gutgläubige messianische Erwartung, sie könnten Deutsch-Jammerland retten? Er soll 2006 Weltmeister werden, sie das Gesundheitssystem renovieren, und den Rest gleich mit. Gemeinsam haben sie einen Standort aufzufrischen, dessen Bewohner gern an sich glauben würden, wenn es nicht mit soviel Mühe verbunden wäre.
Wenn es eine herausragende Gemeinsamkeit gibt, dann ist es die Außenseiterrolle. Sie waren nie wie die anderen. Klinsmann, der bei der Nationalelf als einziger auf dem Einzelzimmer bestand, sah zwischen den dauergewellten Kickerkollegen so verloren aus wie Angela Merkel auf einem Ministerpräsidententreffen. Sie waren halsstarriger, weniger kungelkundig, sie suchten ihre Freunde mit viel Bedacht aus. Mehrheitsfähig waren sie nicht.
So brauchte es eine Maximalkrise, um Exoten wie sie an die Spitze jener Pavianfelsen zu heben, auf denen Deutschland seit jeher ruht. Mayer-Vorfelders DFB war nach Völlers EM-Debakel ähnlich hilflos wie die CDU zur Spendenzeit. Rivalen wollten, konnten oder durften den Job nicht machen. Ihre Eigenbrödelei gereichte Klinsmann und Merkel plötzlich zum Vorteil. Von alten Geschichten, von Seilschaften und Mitwisserschaften unbelastet standen beide bereit in jener kurzen kreativen Phase, in der sich die abgeschotteten Altherren-Vereine für Neues öffneten, aus Angst, sonst alles zu verlieren. Die besonders Schlauen spekulierten darauf, dass die beiden nur Übergangskandidaten sein würden. Vertan.
In normalen Zeiten wäre Klinsmann ebenso wenig Bundestrainer geworden wie Merkel CDU-Chefin. Wer den Gruppendruck flieht, kann auf Mehrheiten nicht hoffen. DFB-Funktionäre verabscheuen ihn bis heute so wie Teile der CDU ihre Chefin. Auf in der Not belastbare Loyalitäten können sie sich nie verlassen, weder bei den grummeligen Alten noch bei den Aktiven, den Kahns und Stoibers, die ihr Selbstverständnis daraus ziehen, besonders viel gerackert zu haben. Ihnen ist so einer suspekt, der seine Kinder zur Schule bringt oder eine, die Physik studiert hat. Warum machen diese Menschen Dinge, die dem jeweils anderen Geschlecht vorbehalten sein sollten.
Merkel wie Klinsmann sind keine rollenfixierten Racker-Teutonen. Sie sind eine Entwicklungsstufe weiter. Sie haben eine Mission. Fleiß und Pflichterfüllung sind kein Selbstzweck, sondern, wie ihr ganzer Job, egal, ob Stürmer, Generalsekretärin, Kanzlerin, Bundestrainer, nur Mittel der Mission. Was sie wirklich wollen ist: Erfolg, nicht um jeden, aber um ungewöhnlich hohe Preise. Nur Macht ebnet den Weg zum Erfolg. Und Macht nutzen sie hemmungslos. Da bleibt schon mal einer am Wegesrand liegen, hier Kohl, Merz, Stoiber, da Beckenbauer, Matthäus, Hoeneß. Feinde motivieren sie, zwingen zugleich aber zur Vorsicht. Beide wissen: Jeder ihrer Fehler kann die endgültige Fehlbesetzungsdebatte auslösen. Da reichte schon ein 1:4 gegen Italien oder ein plötzlich hervorgezauberter Kirchhof - wenn es nicht so kurz vor dem Finale geschehen wäre.
Klinsmann ist so undeutsch wie Merkel. Das mag daran liegen, dass beide ein Erweckungserlebnis der amerikanischen Art hatten. Gleich nach der Wende reiste sie an der Seite ihres Mannes Joachim Sauer in die USA. Überrascht stellte sie fest, dass Westdeutschland gar nicht gleich Westen war. Das Abenteuer Leistung, die Droge Wettbewerb, die gab es in Amerika in spannenderen Dosierungen. So ging es Klinsmann auch. Gemeinsam mit zwei glasharten Managern aus der Sportartikelindustrie macht er in Kalifornien Geschäfte, ganz ohne die Sicherheit großer Institutionen, auf die sich in Deutschland viele verlassen. Klinsmanns Partner beraten ihn auch im Umgang mit dem DFB. Dafür hassen ihn die Mayer-Vorfelders noch mehr: Geschäfte schön und gut, aber nicht auf Kosten des DFB.
Unabhängigkeit, das ist es, was die beiden ausmacht. Angela Merkel hat sich nie etwas vorschreiben lassen, nicht einmal von ihrem zum Bestimmen neigenden Vater. Die Kindheit im Pastorenhaus in der Uckermärker Provinz, immer im Fadenkreuz der Stasi, hat sie imprägniert und stark gemacht. Wer 35 Jahre DDR und 15 Jahre CDU absolviert hat, dem kann bei Chirac, Bush oder Blair nicht viel passieren.
Auch Jürgen Klinsmann ist aus der deutschen Provinz zum Weltbürger aufgestiegen. Die Wurzeln in Göppingen nah der Schwäbischen Alb und das Flip-Flop-Leben in Huntington Beach, das Strukturkonservative Baden-Württembergs und die Surfer-Matte, das abgeschirmte Privatleben und ein ebenso sparsames wie unverkumpeltes Verhältnis zu den Medien, das fügt sich zu einem globalisierten Deutschsein, egoistisch, realistisch, gnadenlos - aber international wettbewerbsfähig.
Solche Typen werden nicht geliebt, aber ernst genommen. Denn Merkel wie Klinsmann machen klar, worum es am Ende geht: um nicht weniger als sie selbst. Das steht nur vordergründig im Widerspruch zum Mannschaftsgeist: Nur mit individuellem Egoismus, gezähmt vom höheren Ziel des Teams, sind Höchstleistungen überhaupt möglich, in der Politik wie im Fußball. Die höchste Kunst ist in beiden Disziplinen die Harmonisierung von Individual- und Kollektivinteresse.
Merkel wie Klinsmann sind Rationalgeschöpfe. Verbrüderungen sind ihnen lästig bis unheimlich. Sie bleiben lieber auf Distanz. Als sie gleich nach dem Mauerfall die westdeutschen Parteien inspizierte, stellte Angela Merkel fest, dass bei der SPD "alle ,Du' zueinander sagen mussten". Manche sprachen sich sogar mit "Genosse" an. Das widersprach ihrem Bedürfnis nach Distanz. So ist es bei Klinsmann auch. "Ich duze ihn zwar", sagt der Haudegen Bernd Schneider, "aber ich versuche das zu vermeiden".
So unterschiedlich sie auch auftreten, so sehr verbindet die beiden Volksvertreter ein neudeutscher Mentalitätsmix. Fußballer wie Politikerin sind strukturkonservativ, zugleich aber mutig und offen, dabei relativ uneitel. Klinsmann fuhr noch in Millionärstagen Käfer, Merkel als Ministerin Golf. Er will Herbergers Tugenden wiederbeleben, sie die von Ludwig Erhard. Sie lässt einen Hirnforscher zu ihrem 50. Geburtstag sprechen, er führt Fußballer ins Museum. Sie regiert per SMS, er per Mail. Beide hatten ein anderes Leben, sie als Physikerin in der DDR, er als Bäckergeselle im Filstal.
Vielleicht wird man im stilsicheren Großbritannien eines Tages auch über die Kanzlerin lesen, was der "Oberserver" über Klinsmann schrieb: "Der coolste Deutsche seit Marlene Dietrich." Ein interessanter Ansatz. Schließlich bevorzugen beide die radikalliberale Dietrichsche Weltsicht, für die es in Deutschland keine parteipolitische Heimat gibt. Ist es Zufall, dass Jürgens größtes Idol sein vor einem Jahr verstorbener Vater Siegfried Klinsmann ist, der das Dorf Hohenwutzen im Brandenburgischen verließ, weil er die von den Sowjets zusammengezimmerte DDR als Beschränkung seiner Freiheit empfand? Genau so ging es der Pfarrerstochter Merkel. Sie hatte nur keine Chance, einfach abzuhauen.
Mochten sie auch nicht immer ganz genau wissen, was sie wollten, so wussten beide sehr genau, was sie nicht wollten: Fesseln. Vielleicht liegt hier für 2006 die größte Chance: Merkel wie Klinsmann können beweisen, zu was ein freier Geist in der Lage ist.
Der Publizist Hajo Schumacher ist Autor des Buches "Papa, wie lang sind 90 Minuten" sowie Biograf von Angela Merkel und Roland Koch.