Gerade mal vier Wochen hat ein echter Fußballfreund Zeit, seiner Leidenschaft fürs runde Leder zu frönen. Wenn am 9. Juni der Anpfiff zum Eröffnungsspiel in München ertönt, läuft die Uhr unerbittlich, und einen Monat später in Berlin steht der Sieger auch schon fest. Für den Kunst- und Kulturinteressierten sieht das anders aus. Seit September 2003 wird er mit einem ebenso bunten wie ausgefeilten kulturellen Rahmenprogramm verwöhnt und auf die Fußball-WM eingestimmt. Das gab's noch nie: Theater-, Ausstellungs- und Kinogänger in inniger Umarmung mit hart gesottenen Fußballfans.
Der Schulterschluss ist politisch gewollt. Als im Jahr 2000 die WM 2006 an Deutschland vergeben wurde, erhielt André Heller den Auftrag, das "Kunst- und Kulturprogramm der Bundesregierung" zusammenzustellen. "Es war eine zufällige und günstige Konstellation", erläutert Volker Bartsch, Geschäftsführer der eigens gegründeten DFB-Kulturstiftung, "dass Entscheider im Umfeld dieser Weltmeisterschaft gesagt haben, wir wollen auch die Kulturszene einbeziehen". Aus knapp 400 eingereichten Bewerbungen wurden schließlich 48 taugliche Projekte ausgewählt und bestreiten nun die Binnen- und Außenrepräsentation Deutschlands. "Denn das Image Deutschlands bei einem solchen Anlass mit Kunst und Kultur zu verbinden", so Bartsch, "ist natürlich sehr positiv".
Unter den ausgewählten Kunst- und Kulturprojekten befinden sich populäre wie elitäre - massentaugliche Events wie der "Fußball Globus", ein mobiler, mit Kultobjekten angefüllter Pavillon, der seit 2003 durch deutsche Städte tourt, ebenso wie das im Februar 2006 in Paris uraufgeführte Tanzstück "Vespero" des renommierten belgischen Choreografen Alain Platel, das durch knapp 30 europäische Städte reist, bevor es 2007 auf USA- und Asien-Tournee geht. "Ein künstlerisch derart ambitioniertes Projekt", schwärmt Volker Bartsch, "trägt zum Erstaunen in der übrigen Welt darüber bei, was der deutsche Fußballbund alles fördert. In Frankreich hat uns das großen Respekt eingebracht."
Bereits 1,3 Millionen Menschen waren schon zwei Monate vor der WM, mit dem Kunst- und Kulturprogramm in Berührung gekommen. Nicht nur bei Großevents wie dem "Fußball Globus" oder seiner internationalen Variante "Football Globe", auch Ausstellungen wie die "Rundlederwelten" 2005 im Berliner Martin-Gropius-Bau und die im Rahmen der Berlinale 2005 gezeigten 45 Kurzfilme über die "Seele des Fußballs" gehörten zu den Publikumsrennern. Der Lesemarathon "Kopfballspieler - Ein Gipfel der Welt-Literaturen" im Berliner Museum für Kommunikation, wo so namhafte Autoren wie Javier Marías, Péter Esterházy und Henning Mankell sich ein Stelldichein gaben, zog dagegen ein eher literarisch interessiertes Publikum an.
Indessen steht ein Großteil des Kunst- und Kulturprogramms noch aus. Erst während der Fußball-WM wird mit vielen Programmen aus den Disziplinen Theater und Performance, Ausstellung und Film, Musik und Literatur aufgewartet. Die Auswahl kann sich sehen lassen. Kurator André Heller hat es verstanden, eine feine Balance zwischen Kleinkunst und Großevent zu wahren. Selbst anspruchsvolle Kunstliebhaber kommen auf ihre Kosten, wenn sie etwa am 19. Juni in der Alten Oper in Frankfurt das Galakonzert unter der Leitung von Justus Frantz besuchen. Vom HipHop Worldchallenge im Leipziger Kohlrabizirkus über das Fußballoratorium "Die Tiefe des Raumes" in der Komischen Oper Berlin bis zum "Poesie-Automaten" von Hans Magnus Enzensberger, bei dem man per SMS beliebige Zahlenkolonnen versenden kann und ein Gedicht zurückerhält, ist für jeden Geschmack etwas dabei.
Der Fernsehmoderatorin Tita von Hardenberg ist nur beizupflichten, wenn sie im Programmkatalog leicht ironisch schreibt: "Dieser Weltmeisterschaft entgeht keiner. Sie holt sogar die eingefleischten Fußballhasser ein. Und zwar dort, wo sie sich bisher zu Recht in absoluter Sicherheit wähnten: im Museum, im Theater oder im Kino." Doch wie kommt es eigentlich dazu, dass Kunstliebhaber sich auf einmal für Fußball erwärmen? (Und womöglich Fußballfans umgekehrt auch für Kunst?) Und woher stammt das Interesse bislang sportferner Kreise am rasanten Ballspiel? Galt der proletarische Fußball nicht immer als despektierlich, schmutzig und leicht degoutant
Tatsächlich haben Fußball und Kultur auf den ersten Blick wenig gemeinsam - auf der einen Seite die Stadionbesucher, auf der anderen die Museumsgänger. Diese starren sozialen Grenzverläufe gelten allerdings nicht mehr. Zumindest auf Seiten der Kulturszene herrscht ein dezidiertes Interesse an der "wichtigsten Nebensache der Welt" vor. Kinogänger geraten beim "Wunder von Bern" ins Schwärmen, Museumsbesucher erliegen der "Faszination Fußball", wie der Titel einer Ausstellung im Hamburger Völkerkundemuseum lautet, und Fernsehzuschauer wundern sich über den deutsch-französischen Kulturkanal Arte, der "Fußball von allen kulturellen Seiten her beleuchten" will.
Warum mit einem Mal in aller Öffentlichkeit über die eigene Leidenschaft zum Fußball laut räsoniert werden darf, wo noch vor wenigen Jahren ein verschämtes Schweigegebot herrschte, hat unterschiedliche Gründe. Fußball wird heute als Teil der Alltagskultur erlebt, mit der jeder in Berührung kommt, weil sie sein eigenes Leben, seine Sozialisation bestimmt. Für den Tübinger Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer hängt dies mit dem Siegeszug der Kulturwissenschaften zusammen, einer vergleichsweise jungen Disziplin, die sich der methodischen Analyse von Alltagsphänomenen, vom Hütchenspiel bis zum Drogenrausch, verschrieben hat. Aus ihrer Perspektive ist "Fußball die perfekte Simulation des Lebens", so Wertheimer, "mit der Garantie echter Gefühle, ohne dass dabei etwas kaputtgeht".
Wenn elf Freunde auf dem Spielfeld gegen eine fremde Mannschaft antreten und auf formalisierte Weise einen symbolischen Wettstreit um Sieg und Niederlage ausfechten, dabei genauen Regeln innerhalb eines festgelegten Zeitlimits folgen, dann ist das ein Bildnis für soziales Leben en miniature. Fußball als Realitätsmodell. Für den Kunsttheoretiker Klaus Theweleit hat Fußball gar die "politische Leerstelle" nach dem Mauerfall und dem Ende des Kalten Krieges besetzt, als die politischen Utopien zusammenbrachen, in welche gerade Künstler und Intellektuelle einige Hoffnungen gesetzt hatten. Andere wiederum, wie Jürgen Wertheimer, warnen davor, ein simples Ballspiel symbolisch zu überfrachten und "den Fußball zur Rettungsvision der Welt und zum allgemeinen Welterklärungsmodell hochzustilisieren".
Unter den Fußballspielern und -fans fallen die Annäherungsversuche in Richtung Kultur zaghafter aus. Bei einem Podiumsgespräch der "Kopfballspieler" im Berliner Museum für Kommunikation zeigte sich, dass ehemalige Fußballprofis wie Michael Preetz und ein Literatur-Titan wie Javier Marías sich doch eher wenig zu sagen haben. Die einen agieren und die anderen kontemplieren. Und daran ist auch wenig auszusetzen, solange dies im selben Raum passiert, sei es eine Fußballarena oder ein Kulturtempel. Am wahren Lauf der Dinge richten ohnehin nur die Spieler etwas aus, während die Beobachter - egal ob echter Fußballfan oder Gelegenheitszuschauer aus der Kulturszene - zum bloßen Mitfiebern verdammt sind. Und nur im Stadion werden sie sich in die Arme fallen, wenn's es spannend wird - bei einem Tor.
Helmut Merschmann arbeitet als freier Journalist in Berlin.
Internet: www.dfb-kulturstiftung.de