Seit einigen Tagen weht beim Deutschen Fußball-Bund in Frankfurt ein frischer Wind. Es ist Ostwind, der jetzt um die Otto-Fleck-Schneise pfeift. Matthias Sammer schlägt den Kragen hoch, er freut sich auf die Herausforderung. Mit ihm als neuen Sportdirektor hat erstmals ein Mann aus der Kaderschmiede der ehemaligen DDR das Kommando über den deutschen Kicker-Nachwuchs. Der Neu-Beamte in der Frankfurter Zentrale lebt seine Leidenschaft. Wenn er den Zeigefinger hebt und seine Augen funkeln, ist aus dem privat sehr umgänglichen 39-Jährigen längst der Fußball-Feuerkopf geworden. "Mein Sohn ist elf und spielt beim VfB in Stuttgart. Warum wird bei ihm heute nur noch ein Drittel von dem gemacht, was ich früher trainiert habe?" Eine der Kardinalfragen im deutschen Fußball.
Matthias Sammer hatte von Anfang an einen Privatcoach, seinen Vater Klaus, mit Dynamo Dresden selbst DDR-Meister und Auswahlspieler. Zum Leidwesen von Mutter Dörte wurde pausenlos im Flur oder auf dem Hinterhof an der Teppichklopfstange "gebäbbelt", wie man in Dresden sagt, wenn die Kugel rollt. An den Wochenenden ging es ins Harbig-Stadion, dass damals Dynamo-Stadion hieß. "Wir kamen immer erst nach dem Anpfiff, warum, weiß ich nicht", erinnert sich Matthias Sammer an seine Zeit als Dreikäsehoch. Doch im Unterschied zu den anderen Kindern, für die das Treiben auf dem Rasen schnell langweilig wurde, starrte der kleine Sammer wie gebannt auf die Aktionen der Dörner, Häfner oder Kreische. Seinen Vater hat er in der Erinnerung nicht mehr als Spieler präsent. Kunststück, der Rotschopf ist Jahrgang 1967 und Klaus Sammer wurde schon im Herbst 1973 bei den Schwarz-Gelben unter anderem wegen Westverwandtschaft ersten Grades aus dem Spielverkehr gezogen.
Als Beruf kam für den jungen Matthias Sammer nur der Job in Frage, den es in der DDR offiziell gar nicht gab: Fußballer. Er durchlief die berühmte Dresdner Nachwuchsschule, in einem Jahr schoss er sagenhafte 260 Tore. "Ich hatte eine eigene Vorstellung vom Fußball", beschreibt er sich lachend und erklärt: "Alle hatten mir den Ball zu geben, damit ich die Buden machen konnte. Das Spiel nach hinten gab es für mich überhaupt nicht." Nach der Schule erlernte der Rotschopf den Beruf eines Maschinen- und Anlagenmonteurs und wurde Fußballer. Mit 17 debütierte er im Frühjahr 1985 in der ersten Mannschaft von Dynamo. Der Cheftrainer hieß damals Klaus Sammer.
Ein anderes Beispiel eines Spitzenspielers aus dem Osten ist Thomas Linke. "Hast du einen dummen Sohn, dann schicke ihn zu Robotron!" Linke konnte über diesen alten DDR-Spruch nicht lachen. Er spielte bei Robotron in Sömmerda. Mit zwölf schaffte er bei der Betriebssportgemeinschaft den Absprung und wurde auf die Kinder- und Jugendsportschule nach Erfurt delegiert. Nach der Wende kam Linke aus dem Staunen nicht heraus. Er war zu Schalke 04 gewechselt und musste sofort an seine Ausbildungszeit in Sömmerda denken, als der Holländer Huub Stevens Chefcoach der Knappen wurde. Kein Wunder, die Holländer hatten in den 80er-Jahren viel vom Trainingssystem der DDR übernommen. Das Fußball-Internat von Ajax Amsterdam ist im Prinzip eine moderne Kinder- und Jugendsportschule. Linkes überaus solide Grundausbildung verschaffte ihm gepaart mit seinem Talent einen Vertrag beim FC Bayern München, 2002 wurde der Verteidiger mit Deutschland Vize-Weltmeister.
"Ist er noch viel dümmer, die Reichsbahn nimmt ihn immer." So lautete damals die Fortsetzung des alten Spruches. Heiko Scholz, bis Saisonende Interimscoach bei Fußball-Bundesligist MSV Duisburg, wurde 1986 vom 1. FC Lokomotive Leipzig genommen. So genannter Trägerbetrieb sprich Geldgeber der Messestädter war zu DDR-Zeiten die Deutsche Reichsbahn. Scholz, der Dampfmacher im Mittelfeld, feierte nur Monate nach seinem Oberligadebüt mit Lok den Einzug ins Europacup-Finale. Im Unterschied zu Thomas Linke war seine Laufbahn mit 16 Jahren so gut wie beendet. Der kleine Görlitzer, an der Kinder- und Jugendsportschule (KJS) in Dresden in einer Klasse mit dem späteren Torjäger Ulf Kirsten, erschien den Verantwortlichen in Dresden zu schmächtig und nicht robust genug. So landete der bei Dynamo Ausgemusterte bei der ISG Hagenwerder an der polnischen Grenze.
Zwei Jahre später wurde er von den Spähern aus Leipzig entdeckt. 1990 kauften ihn die Dresdner für eine Million Mark zurück, ein teuerer Irrtum. Nach der Wende waren Scholz und Kirsten wieder vereint. Die alten Kumpels heckten nun unter dem Bayer-Kreuz in Leverkusen ihre Streiche aus, gingen in der Werkself auf Torjagd und feierten 1993 mit dem DFB-Pokalsieg ihren ersten gesamtdeutschen Titel.
Matthias Sammer traut sich ohne Mühe zu, aus einer Anzahl ihm unbekannter Fußballer jene herauszufinden, die den Bildungsweg der KJS durchliefen. Koordinative Übungen oder das berühmte Kopfballpendel seien nur zwei Grundlagen für Gewandtheit, Geschicklichkeit oder auch das Antizipieren von Spielsituationen. "Wir müssen wieder mehr Fußball spielen", lautet seine unmissverständliche Forderung. In Italien würde bis zum Alter von 14 Jahre kaum Kondition gebolzt, auch die Taktik spiele keine große Rolle. Sammer weiß, wovon er spricht. Die intensive und
systematische Ausbildung in der damaligen DDR wurde nicht nur von den Holländern studiert, kopiert und weiterentwickelt. Auch in Frankreich gibt es seit fast 20 Jahren die Kombination aus Schule, Sport und Internat. Vor einiger Zeit kehrte das Modell auch wieder nach Deutschland zurück, wo es zu Wendezeiten aus ideologischen Gründen verpönt war. "Zurück in die Zukunft" heißt jetzt das Motto. Aus der DDR-Kinder- und Jugendsportschule ist mit ein paar Umwegen der DFB-Nachwuchsstützpunkt geworden.
In Dresden entsteht derzeit mit Hilfe der "Ulf-Kirsten-Stiftung" das zweite Nachwuchs-Leistungszentrum. Aber, die A-Jugend des FV Nord steigt gerade aus der Junioren-Bundesliga ab. Das Team der Jung-Dynamos dagegen ist vom Bundesliga-Aufstieg meilenweit entfernt. Konzentration der Kräfte? Fehlanzeige! Matthias Sammer schüttelt ungläubig den Kopf. Es tut im weh, was aus der einstigen Fußball-Hochburg geworden ist. Im Osten regieren fast überall die Eitelkeiten. Auf den fußballerischen Provinzbühnen tanzen nur "Experten", was fehlt, sind wirkliche Strategen. Dynamo Dresden kämpft verzweifelt gegen den Abstieg aus der 2. Bundesliga. Im Team stehen Spieler, "die hätten bei uns früher nicht einmal die Bälle holen dürfen", wettert Hans-Jürgen "Dixie" Dörner, Dresdens Fußball-Ikone. Der 100fache Auswahlspieler betreibt in den Ferien eine Fußballschule, den wöchentlichen Sondertrainingsbetrieb hat er wieder eingestellt. "Sinnlos", sagt er, "ich kann nicht zaubern, die sollen weiter am PC sitzen und Pommes essen!" Früher kamen die besten Talente zu Dynamo, im Klub kümmerten sich die besten Trainer um den Nachwuchs.
In Leipzig ist die Lage noch prekärer. Im WM-Stadion erleben in diesen Tagen nicht einmal mehr 2.000 Unentwegte die Viertliga-Auftritte des FC Sachsen. Immerhin, die A-Jugend der "Leutzscher" (Leipziger) hat als Aufsteiger die Bundesligazugehörigkeit so gut wie sicher. Zum Dank wird dem Trainer, Ex-Auswahlspieler Detlef Schößler, das gewiss nicht üppige Salär um ein Drittel gekürzt. Ganz anders die Situation beim Ortsrivalen. Lok Leipzig, nach dem pleitebedingten Neuanfang in der 11. Liga durch einen Aufstieg und eine Fusion immerhin schon wieder bis in Liga 7 vorgedrungen, ist in mittlerweile 59 Spielen ungeschlagen. Die wirklichen Probleme im Plache-Stadion werden gern verschwiegen. Der Präsident soll früher Anführer der Hooligans gewesen sein, Fans hatten zuletzt bei einem Spiel ein Hakenkreuz gebildet und der Auswärtsauftritt in der Bezirksklasse Leipzig beim BC Mügeln wurde sicherheitshalber in die heimische Arena verlegt. Ende November war es in Wurzen zu schweren Ausschreitungen gekommen.
Uwe Karte ist Redakteur beim MDR und hat das Buch "Kabinengeflüster. Geschichten aus 40 Jahren DDR-Elf", erschienen im Agon-Verlag, geschrieben.