Das Essen, bei dem Berthold Trainer und Torwarttrainer für 104 Euro eingeladen hatte, lag schon eineinhalb Jahre zurück. Blöd daran allerdings war, dass sich die beiden Tischnachbarn partout nicht an ein solches Dinner erinnern konnten. Und so stand Thomas Berthold, ehemals Weltmeister von 1990, plötzlich als Spesenbetrüger da.
Ein Vorwand, klar, aber untypisch ist die Angelegenheit für Berthold nicht. Auf die Frage, wie es weiterging im Leben nach dem Weltmeistertitel, kann man diese Episode erzählen. Oder diese: In der Saison 1991/92 spielte Berthold beim FC Bayern München. Er war vom AS Rom gekommen, war Weltmeister, ein eleganter Verteidiger. Um es direkt zu sagen, Berthold zeigte beim FC Bayern wenig bis gar nicht, warum er Weltmeister geworden war, meistens spielte er schlecht und hatte Krach mit Trainer Erich Ribbeck. Unter Kennern gilt es zwar als Auszeichnung, wenn man sich mit diesem alles in allem doch fußballerisch etwas unbedarften Trainer anlegt, aber da war eben auch Manager Uli Hoeneß. Und der lud eines Tages furchtbar aufgeregt einen Reporter der "Süddeutschen Zeitung" in sein Büro. "Kommen Sie, kommen Sie, ich zeig Ihnen etwas." Hoeneß warf den Videorekorder an und führte die Aufzeichnung eines Bundesligaspiels vor. In einer Szene war Thomas Berthold zu sehen, wie er doch arg pomadig einem Bochumer Gegenspieler entgegentrat. Er blieb nämlich stehen, als dieser an ihm vorbei stürmte. "Arbeitsverweigerung", rief Hoeneß, "klare Arbeitsverweigerung. Das ist ein Vertragsbruch." Juristisch war der Vorwurf schwerlich zu halten, dafür steht in der Bilanz der Saison 92/93 hinter dem Namen Berthold: 0 Spiele, 0 Tore. Er saß nur noch auf der Tribüne, saß seinen Vertrag ab und spielte ansonsten munter Golf.
Es hat danach auch noch ein paar positive sportliche Erlebnisse gegeben. Beim VfB Stuttgart spielte er sieben Jahre recht erfolgreich, aber auch da war man froh, als man ihn endlich los war. Noch heute murmelt man in Stuttgart, dass es nie und nimmer sieben Jahre geworden wären, wenn Bertholds doch sehr intimes Verhältnis zum damaligen Präsidenten Gerhard Mayer-Vorfelder und dessen Gattin ihn nicht immer wieder geschützt hätte. Man muss es wohl so bilanzieren: Beim Imagetest fällt Thomas Berthold, 41, immer noch glatt durch. Obwohl er sich in der Kinderkrebshilfe engagiert, obwohl er ein paar Mal im Jahr bei Benefizspielen mitkickt, und nun in Afrika Stadien bauen will und dabei auf infrastrukturelle Aufbauarbeit verweist. Das Bild vom Abzocker, das bleibt. "Ich bin wie ich bin, basta", hat er früher schon gesagt. Und sorgen muss man sich um ihn eh nicht, der Mann hat früher nur bei den bessern Adressen gespielt in Verona, beim AS Rom, in München, da bleibt was hängen, der Mann hat Millionen auf dem Konto, Aktien, diverse Wohnimmobilien in Hanau, Frankfurt und Dresden. Den gekonnten Umgang mit Geld hat er vom Vater gelernt, der war Bankier, und Berthold schon Millionärssohn bevor er Weltmeister wurde. "Ich war damals stolz, dass wir Weltmeister wurden, aber ich laufe deswegen doch heute nicht durch die Gegend, um damit zu prahlen", sagt er, und man hat den Eindruck, als habe der Titel keine besondere Bedeutung in seinem Leben.
Zumindest hat er seinem Leben keine besondere Wende gegeben. Und bei Jürgen Grabowski? Auch er Frankfurter wie Berthold, auch er Weltmeister, und zwar 1974. Im Sommer wird Grabowski 62, kürzlich ist er für Fotoserie abgelichtet worden. Als Motiv wurden die Fußball-Sammelbildchen gewählt. Und so steht Grabowski da: die Haare angegraut, aber noch lang, wie es Mode war im Jahr seines größten sportlichen Erfolges. Hager das Gesicht, mit Schnauzbart, schlank ist Grabowski und stolz sein Blick. Und wenn man ganz genau hinschaut, vermeint man Glanz in seinen Augen zu sehen. Wie auch nicht? Das war ja damals sein Tag, jener 7. Juli 1974. Nicht gerade als Spieler, die Stars der Mannschaft hießen anders,
Beckenbauer, Maier, Müller. Aber Grabowski wurde 30 an diesem Tag und Weltmeister. Bestimmt ist das Glanz in seinen Augen. Das war ja schon eine charakterlich gespaltene Mannschaft damals. Da die Beckenbauers und Hoeneße, die seinerzeit schon auftrumpften und den Mittelpunkt suchten. Das sind die, die ihn auch nach der Karriere nicht verlassen haben. Und dann waren da die Schwarzenbecks und Hölzenbeins, die so wichtig waren, aber kein Aufhebens machten, und auch nach der Karriere nicht. Schwarzenbeck zum Beispiel steht noch heute jeden Tag in seinem Zeitschriftenladen in München-Giesing und verkauft Kindern Kaugummis und Rentnern Zigarren. Zu denen zählt auch Jürgen Grabowski. Der verkauft Versicherungen. "Und wenn sich die Leute anstoßen und sagen, das ist doch der Grabi, dann tut einem das gut. Aber es ist weniger geworden, ich kann damit leben", sagt er. Früher, als er noch spielte, immer eingeklemmt zwischen all den Bayern-Spielern und denen aus Mönchengladbach, die in den 70er-Jahren die zentralen Blöcke der Nationalmannschaft bildeten, früher hat er einmal gesagt: "Ich hatte während des Spiels häufig das Gefühl, ich gehöre gar nicht dazu." Aber auch das war damals schon nicht bitter, nur realistisch. Sie waren halt dabei, sie waren gut, sehr gut, aber im Rampenlicht? Nein, da standen sie nicht, und sie wollten es auch nicht. Grabowski, dieser dribbelstarke und listenreiche Rechtsaußen, hat seine Frankfurter Eintracht ein paar Jahre lang als Mitglied des Verwaltungsrates unterstützt, aber dann gab es 1992 ein bisschen Knatsch mit Bernd Hölzenbein, dem Vizepräsidenten des Klubs und altem Kumpel, und Grabowski stellte sich nicht mehr zur Verfügung. Auch ist er in Krisenzeiten als eine Art handauflegender Guru immer wieder als möglicher Präsident vorgeschlagen worden. Aber nein, das ist ja Rampenlicht: "Man kann sich nicht einfach zum Präsidenten wählen lassen. Man muss das wollen, ich will's nicht." Aber schön war's damals, so schön, dass der Glanz in die Augen kommt. Und wenn der DFB sich der alten Recken erinnert und sie zum Schmuck von Auslosungen und repräsentativen Aufzügen braucht, na gut, dann geht er halt hin. In der Regel dauert es aber ziemlich lange, bis die Kameras ihn gefunden haben.
Bei einer dieser Veranstaltungen, in Leipzig zur Auslosung, war auch Horst Eckel zugegen. Horst Eckel, der jüngste der Berner Helden, 74 ist er jetzt und im Hauptjob Repräsentant und Zeitzeuge der Wunderelf, die 1954 gegen die Ungarn Weltmeister wurde. Ottmar Walter (81) lebt auch noch, wie auch Hans Schäfer (78) aber die sind nicht mehr so gut beieinander. Eckel schon, und dann muss er bei solchen Auftritten immer erzählen, wie es damals war, in dieser anderen, fremden Welt. Es sind Geschichten, wie er als Junge vom Heimatort Vogelbach aus die 30 Kilometer nach Kaiserslautern zum Betzenberg mit dem Rad gefahren ist, dann durch ein Loch im Zaun ins Stadion kam, zuschaute und wieder heimradelte. Oder Geschichten vom Chef, von Sepp Herberger, und die Geschichte, wie er heimkam nach Vogelbach, nach dem Triumph. Eigentlich lebten in Vogelbach nur etwa 800 Menschen, aber an jenem 7. Juli, drei Tage nach dem "Tor! Tor! Tor! Deutschland ist Weltmeister", waren 20.000 gekommen, um ihn, Horst Eckel, zu begrüßen. Es gibt Menschen, die zerbrechen an so etwas, er war doch erst 22 Jahre, durfte gerade mal wählen in der noch jungen Demokratie, und dann kommen 20.000 um ihn zu begrüßen. Andere sind daran zerbrochen, Werner Kohlmeyer etwa, auch Helmut Rahn hat seine Schwierigkeiten gehabt, "man muss einfach nur normal bleiben und so weiterleben wie bisher", hat Eckel gesagt. Einfach nur. Aber er hat es geschafft. Gleich nach dem Titelgewinn hätte er nach England gehen können, für viel Geld, aber das schlug er aus. Er blieb in Kaiserslautern, spielte dort weiter, auch in der Nationalmannschaft. Schwer zu sagen, ob der Titel ihm geholfen hat, seine Lebenswege zu ändern. Eckel war gelernter Werkzeugmacher. Doch ja, das gab es damals noch, dass Fußballspieler nach der Karriere Brotberufe bestreiten mussten und vielleicht auch wollten. Eckel wollte mehr, versuchte sich mal kurz als Trainer bei Röchling Völklingen, aber das war nicht so erfolgreich. Und dann ging der Weltmeister wieder zur Schule, machte seine Hochschulreife, studierte in Trier, und unterrichtete ab 1970 an einer Realschule Sport, Kunst und Werken. Da war er immerhin schon 38, der Weltmeister.
Wenn Horst Eckel erzählt, von damals und von heute, von der Gelassenheit, die man auch haben kann, obwohl man Held ist, dann wirkt er ziemlich zufrieden. Es darf angenommen werden, dass er niemals über eine Spesenquittung von 104 Euro gestolpert wäre.
Helmut Schümann ist Redakteur beim "Tagesspiegel". Von ihm ist "Das Runde muss ins Eckige. Eine Geschichte der Bundesliga" erschienen.