Vor zehn Jahren, am 23. August 1996, erklärte Osama Bin Laden den USA den "Heiligen Krieg", weil sie Saudi-Arabien - "das Land der beiden heiligen Stätten" - besetzt hielten. Zugleich rief er die Muslime dazu auf, sich gegen "die Koalition der Juden und Kreuzfahrer" zu vereinigen. Eine Eskalation des Kampfes versuchte der islamistische Gotteskrieger mit den Terrorangriffen vom 11. September 2001 zu provozieren, indem Washington zu Vergeltungsschlägen getrieben und weltweit mehr als eine Milliarde Moslems in einen "Heiligen Krieg" gegen den Westen hineingezogen werden sollten. Seitdem belehrt und bedroht Osama Bin Laden die Weltöffentlichkeit über Fernsehkanäle, Hörfunk, Internet und Printmedien, während ihn Teile der islamischen Welt zur Symbolfigur und zum Helden stilisieren.
Was will uns Bin Laden mitteilen, der sich selbst als Kämpfer für Gerechtigkeit und den "wahren Gott" bezeichnet? Womit lockt er seine Anhänger und wie veranlasst er scheinbar normale Menschen, zu Selbstmordattentätern zu mutieren? Wie rechtfertigt Al-Qaida Massenmorde an Andersgläubigen und Moslems? Wer sich für Antworten interessiert, kann sich jetzt aus erster Hand über das religiöse und intellektuelle Niveau der Argumentation Bin Ladens informieren. Denn seine Reden und Schriften liegen seit diesem Jahr ungekürzt auf Deutsch vor. In zwei hochkarätigen Bänden wurden seine Reden, Appelle und Briefe, seinem geistigen Ziehvater Imam Abdullah Azzam, des ägyptischen Arztes und Al-Qaida-Vize Ayman Al-Zawahiri sowie des im Juni 2006 im Irak getöteten Terroristen Abu Musab Al-Zarkawi veröffentlicht. Neben dem Originaltext profitiert der Leser von einem hervorragenden wissenschaftlichen Apparat, der ihn mit Hin-tergrundinformationen versorgt.
Es überrascht nicht, dass ausgerechnet Gilles Kepel, Professor am Institut d'Études Politiques in Paris, als Erster eine so umfangreiche Sammlung mit Al-Qaida-Texten präsentierte. Schließlich hat er sich mit seinen international bekannten Büchern "Das Schwarzbuch des Dschihad" und "Die neuen Kreuzzüge" bereits einen Namen gemacht. Insgesamt ist Kepel und seinem Mit-Herausgeber Jean-Pierre Milelli zusammen mit einer Gruppe wissenschaftlicher Mitarbeiter nicht mehr und nicht weniger gelungen, als "das Gedankensystem des Gebildes, das wir Al-Qaida nennen", für ein breiteres Publikum kritisch zu analysieren.
Da ein Organigramm der Terrororganisation fehlt, sind die schriftlichen Quellen das wichtigste Instrument, um das Phänomen Al-Qaida als Ideologie, als Bewegung und als Terrorgruppe zu verstehen. Kepel ist der Meinung, dass die diversen Erscheinungsformen von Al-Qaida - vor allem Terrorakte, Morde, Geiselnahmen und PR-Inszenierungen - die wahren Ziele der Bewegung eher verhüllen. Denn als ihre wichtigste Aufgabe betrachten es ihre Anführer, die islamische Öffentlichkeit von ihren Zielen und vor allem von der religiösen Legitimität ihres Kampfes zu überzeugen. Zu Recht weist Kepel darauf hin, dass Al-Qaida den Islam ganz für sich vereinnahmen will, um so seine islamischen Gegner letztlich auszuschalten.
Bis es so weit war, mussten die "Theoretiker" des modernen Heiligen Krieges einen langen Weg zurück-legen: Zuerst kam Imam Azzam, der 1989 ermordet wurde und der den bewaffneten Widerstand gegen die sowjetische Aggression in Afghanistan zur Pflicht für jeden Moslem erklärt hatte. Auf Azzam gehen auch die ursprünglich mittelalterlichen Definitionen der Feinde des Islams, wie Gottlose und Ungläubige, zurück. Ausführlich analysiert Thomas Hegghammer das Werk Azzams, der zu den wichtigsten, wenn auch wenig erforschten, Propheten des Dschihads gehört. Seine Bücher und Artikel wie "Die Verteidigung der muslimischen Gebiete ist die oberste Pflicht des einzelnen", "Schließ dich der Karawane an!" oder "Sitten und Recht des Dschihads" sind Pflichtlektüre für jeden islamistischen Terroristen.
Schließlich folgte Osama Bin Laden der "Fahne des Dschihad", nachdem er Azzam 1981 in Pakistan kennen gelernt hatte. Allerdings kam es infolge eines erbitterten Kampfes um die Führungsrolle 1987 zur Abspaltung Bin Ladens und zur Gründung von Al-Qaida. Über das Leben von Bin Laden, dem "Volkstribun im Medienzeitalter", erfährt der Leser Näheres in dem großartigen Artikel von Omar Saghi. Er analysiert mit viel Sachkenntnis die Reden und Medienauftritte des Chef-Terroristen, den er als einen Autodidakten "ohne schlechtes Gewissen" beschreibt, "dem es ausschließlich um Effizienz und Medienwirksamkeit seiner Worte geht".
Welche Auswirkungen Osama Bin Ladens Reden und Medienauftritte in der arabischen Welt haben, erfährt man detailliert bei Marwan Abou-Taam und Ruth Bigalke. Als Al-Dschasira 1998 zum ersten Mal einen Film über Osama Bin Laden mit O-Tönen zur Primetime sendete, waren die Straßen in der arabischen Welt wie leer gefegt.
Die Analysen und Kommentare der Wissenschaftler sind in einer gut lesbaren Sprache verfasst, so dass auch Laien von beiden Büchern profitieren werden. Von daher sollen die Texte gerade auch den Lesern empfohlen werden, die keine ausgewiesenen Kenner der arabischen und der islamischen Welt sind.
Al-Qaida. Texte des Terrors. Herausgegeben und kommentiert von Gilles Kepel und Jean-Pierre Milelli. Piper Verlag, München 2006; 516 S., 24,90 Euro.
Die Reden des Osama bin Laden. Analysiert und kommentiert von Marwan Abou-Taam und Ruth Bigalke. Diederichs, München 2006; 255 S. 19,95 Euro.