Die Nachricht hatte die Sprengkraft einer echten RAF-Bombe: Plötzlich war Susanne Albrecht wieder da. Die Frau, die 1977 maßgeblich an der Tötung von Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto durch die Rote Armee Fraktion (RAF) beteiligt gewesen war. Nach zahlreichen Haftbefehlen, nachdem sie 13 Jahre lang in den verschiedensten Winkeln der Welt vermutet worden war, nahmen Polizisten des Zentralen Kriminalamtes der DDR Susanne Albrecht, alias Ingrid Becker, am 6. Juni 1990 in einem Wohnsilo in Berlin-Marzahn fest.
Und das war nur der Anfang: In den folgenden zwei Wochen wurden neun weitere ehemalige RAF-Mitglieder in der DDR verhaftet - darunter Inge Viett, Silke Maier-Witt und Henning Beer. Im Westen warf das die Frage auf, wie es den ehemaligen RAFlern gelungen war, in der DDR unterzutauchen. Heute weiß man, woran es lag: Spätestens seit Anfang der 1980er-Jahre bestand ein mehr oder weniger inniges Verhältnis zwischen der linksradikalen Terroristenszene Westdeutschlands und dem ostdeutschen Ministerium für Staatssicherheit (MfS).
Die Wurzeln dieser "Freundschaft" liegen tief in den 70er-Jahren. Über Verbündete - die Volksrepublik Süd-Jemen und die linksnationalistische palästinensische Terrororganisation "Volksfront zur Befreiung Palästinas" (PFLP) - gab es schon früh "Berührungspunkte" zwischen MfS und RAF. Die RAF-Stasi-Connection intensivierte sich Ende der 70er-Jahre mit Inge Viett, die damals noch nicht der RAF, sondern der ebenfalls linksterroristischen "Bewegung 2. Juni" angehörte. Viett hatte als Erste engere Kontakte jenseits des Eisernen Vorhangs: Auf einer Reise im Frühjahr 1978, auf der sie die Chancen für eine Flucht in die DDR nach der geplanten Befreiung des Kampfgefährten Till Meyer aus der Haftanstalt Moabit ausloten wollte, war sie von DDR-Grenzern festgehalten und Stasi-Terrorabwehrchef Harry Dahl vorgeführt worden.
Viett verwunderte bei diesem Treffen nicht nur, wie sie später berichtete, dass sie von dem Stasi-Offizier mit "Genossin" begrüßt wurde, sondern dass dieser auch bestens über sie Bescheid wusste. Die DDR fände zwar die "terroristische Praxis nicht in Ordnung", allerdings entspräche es nicht seinem "kommunistischen Verständnis", sie an "den Gegner, der ja auch unserer ist, zu verraten". Die RAF-Stasi-Connection war geboren.
Warum die Stasi an einer guten Beziehung mit der westdeutschen Terroristenszene interessiert war, liegt auf der Hand: Sie wollte möglichst viele und genaue Erkenntnisse über den internationalen Terrorismus im Allgemeinen und den westdeutschen Terrorismus im Besonderen gewinnen. Dahinter stand die im Arbeiterstaat stets gegenwärtige Angst, eines Tages selbst Ziel terroristischer Anschläge zu werden. Dafür nahm man in Kauf, terroristische Organisationen zu unterstützen. Dass die DDR sogar zur neuen Heimat für umkehrwillige Terrorkämpfer werden sollte, konnte sich damals allerdings noch niemand vorstellen. Es ging um kleine Freundschaftsdienste: Die Stasi informierte die Terroristen darüber, welche Decknamen und falschen Identitäten den westdeutschen Nachrichtendiensten bekannt waren, welche Depots und Wohnungen beobachtet wurden. Die umfangreichste Unterstützung der RAF durch die Stasi ergab sich allerdings eher zufällig: Nach einem RAF-Banküberfall in Zürich wollten acht RAFler die RAF verlassen. Sie sahen keinen Sinn mehr im bewaffneten Kampf, wollten nicht mehr permanent auf der Flucht sein.
Doch wohin? Die ehemaligen "Kämpfer" mussten aus Deutschland raus. Angola und Mosambik waren als Exil im Gespräch. Weil die DDR stets gute Kontakte in die Dritte Welt hatte, fuhr Inge Viett im Herbst 1979 nach Ost-Berlin und bat um Hilfe bei der Unterbringung der Aussteiger . . . irgendwo in Afrika. Doch die Stasi hatte eine bessere Idee: "Habt ihr mal daran gedacht, die demobilisierten Kämpfer zu uns zu bringen?" Der Vorschlag der Genossen hatte für beide Seiten unbestreitbar Vorteile: Die Aussteiger sprachen die Sprache des Landes - und sie fielen dort nicht auf, wie acht Weiße in Schwarzafrika aufgefallen wären. Kurz: Die Gefahr aufzufliegen war auf der anderen Seite der Mauer deutlich geringer als in einem Dritte-Welt-Land.
So reisten die acht RAF-Terroristen im Sommer über Prag in den Arbeiter- und Bauernstaat ein, erhielten dort neue Biografien, bekamen in einer feierlichen Stunde bei Rotkäppchensekt offiziell die DDR-Staatsbürgerschaft verliehen und lebten fortan - jeder in einer anderen Stadt - im real existierenden Sozialismus. Mit den aktiven RAFlern traf sich die Stasi im Folgenden weiterhin zwei- bis dreimal pro Jahr zum Informationsaustausch. Höhepunkt der Zusammenarbeit zwischen Stasi und der aktiven RAF war die Unterstützung bei den Vorbereitungen auf das Attentat auf US-General Frederick James Kroesen. Wolfgang Beer und Christian Klar wurden dafür unter anderem von Stasi-Offizieren im Umgang mit Waffen trainiert - vor allem mit Panzerfäusten.
Bis zur Wende blieb die RAF-Stasi-Connection weitgehend geheim. Die nunmehr zehn Aussteiger (Henning Beer und Inge Viett waren ins DDR-Exil gefolgt) konnten - mit wenigen Ausnahmen - mit neuer Identität einem geregelten Leben im Arbeiter- und Bauernstaat nachgehen; unter der Obhut, aber auch den strengen Augen der Stasi.
Bis zur Wende. Mit der Mauer fielen auch die Scheinidentitäten der Ex-RAFler. Über Jahre gesammelte Erkenntnisse westdeutscher Terror-Fahnder brachten eine Lawine der Verhaftungen ins Rollen.
In der DDR galt die Zusammenarbeit zwischen Stasi und RAF als eines der größten Staatsgeheimnisse. Denn für die Reputation des Arbeiter- und Bauernstaates wäre es fatal gewesen, wenn früher bekannt geworden wäre, dass das sozialistische Regime den linksradikalen Terror in der Bundesrepublik über ein Jahrzehnt aktiv unterstützt hat.
Der Autor ist Volontär bei "Das Parlament".