Vor nunmehr fünf Jahren wurden die Taliban aus Kabul verjagt. Sie hatten den Bogen überspannt, indem sie Afghanistan dem international agierenden Terrornetzwerk Al-Qaida als Rückzugsgebiet zur Verfügung gestellt hatten. Die Wahlen im Oktober 2004 brachten erwartungsgemäß den vom Westen gestützten Interims-Regierungschef Hamid Karsai ins Präsidentenamt. Die westliche Welt lobt ihn und das afghanische Volk seither für seine Erfolge auf dem Weg der Demokratisierung, auch wenn sich die meisten Afghanen darunter kaum etwas vorstellen können. Das von Politik und Medien verbreitete Bild, wonach das zentralasiatische Land eine positive Entwicklung nimmt, täuscht. Tatsächlich fehlen dem wirtschaftlich daniederliegenden Afghanistan Milliarden Dollar für notwendige Investitionen.
Bereits im Juni 2003 mussten Zweckoptimisten eine herbe Niederlage einstecken, als in Kabul stationierte deutsche Soldaten Opfer eines Selbstmordanschlags wurden. Bis dahin hatten sie geglaubt, dass allein die Entmachtung der Taliban Afghanistan befrieden werde. Zwar stabilisierte sich die Lage zunächst wieder. Dessen ungeachtet haben es die ausländischen Truppen nach wie vor mit einem Staat zu tun, in dem mehr als 25 Jahre das Kriegrecht galt und den die Zentralregierung nicht zu kontrollieren vermag.
Immerhin schützte die regierende Nordallianz in den ersten Jahren nach dem Sturz der Taliban die ISAF-Truppen vor Terrorangriffen, insbesondere die Bundeswehr, die in der Hauptstadt Kabul und im Norden stationiert ist. Der damalige afghanische Verteidigungsminister, Marschall Mohammed Fahim, gab seinem deutschen Amtskollegen Peter Struck sein "Ehrenwort", dass er in dem von ihm kontrollierten Norden für die Sicherheit der Deutschen sorgen werde. Dennoch musste Außenminister Abdullah Abdullah 2004 einräumen: "Es gibt weiterhin Terrorgruppen in Afghanistan, die keine Stabilität wollen. Deshalb sehen sie in den Friedenstruppen genauso ihre Feinde wie in der afghanischen Regierung. Die Gefahr, die von ihnen ausgeht, richtet sich gegen uns alle."
Die Anführer der radikalen islamistischen Gruppierungen, die Taliban und die Reste des Al-Qaida-Netzwerks fühlten sich zu keinem Zeitpunkt an die Sicherheitsgarantie der afghanischen Regierung gebunden. Auch Ex-Ministerpräsident Guebuddin Hekmatyar, der auf Weisung der iranischen Regierung sein Teheraner Exil verlassen musste, kehrte nach Afghanistan zurück, um sogleich den Dschihad gegen die "amerikanischen Marionetten und Verräter des Islams in Kabul" zu verkünden.
In dieser Atmosphäre fand 2003/2004 eine Annäherung zwischen den islamistischen Gegnern des Präsidenten Karsai und den Anführern der paschtunischen Stämme statt. Gemeinsamer Nenner war ihre Abneigung gegen die Herrschaft der Pandscheris, also der Tadschiken der Nordallianz. Zunächst organisierten sie ihren "Widerstand" gegen die Regierung in Kabul aus den Nachbarländern Pakistan und Iran. Mit ihren Anschlägen wollten sie die Friedenstruppen der UNO und die US-Truppen, die die Operation Enduring Freedom anführten, aus dem Land treiben. Unterdessen machte sich Präsident Karsai mit seiner halbherzigen "Demokratisierungspolitik" neue Feinde in breiten Schichten des Volkes. Dazu gesellten sich die früheren Taliban-Gegner, die von ihm entmachtet worden waren.
Gleichzeitig folgte der Präsident dem Drängen der USA: Washington wollte eine Annäherung an den Nachbarn Pakistan erreichen und schaltete deshalb nach und nach die Vertreter der Nordallianz und andere wichtige Anführer aus, die jahrelang erfolgreich gegen die Taliban und damit auch gegen den Einfluss Islamabads gekämpft hatten. Aus Freiheitskämpfern wurden in der offiziellen Propaganda "Warlords", denen der berüchtigte Drogenhandel in die Schuhe geschoben wurde. Dabei wissen "intime Szenekenner", dass Karsais direktes Umfeld und die engsten Mitglieder seiner eigenen Familie den Drogenhandel am Hindukusch mitkontrollieren. Ganz nebenbei versuchten die USA so die Position Russlands, Irans und Indiens zu schwächen, die jahrelang den Kampf der Nordallianz gegen die Taliban unterstützt hatten. Im Ergebnis führte Karsais "Befreiungsschlag" letztlich zu einer weiteren Schwächung der Anti-Taliban-Front im Land.
Bis heute ist ein Afghanistan mit einer voll funktionsfähigen Staatsgewalt, einer einsatzbereiten Polizei und einem wachsamen Grenzschutz all denen ein Dorn im Auge, die seit zwei Jahrzehnten von der Krise des Landes profitieren. Dabei ist unwesentlich, ob die Feinde aus Afghanistan selbst stammen oder sich im Ausland aufhalten. Nicht nur die "Warlords", die Drogenbarone und die pakistanische Schmugglermafia, sondern auch die Regierungen in Islamabad und Teheran haben kein Interesse daran, dass sich am Hindukusch ein souveräner Staat mit einer pro-amerikanischen Orientierung etabliert. Deshalb werden weiter ethnische Konflikte geschürt, Intrigen und Komplotte ausgeheckt oder Terrorakte verübt, um das arme Land zu destabilisieren. An ein Austrocknen dieses Sumpfes ist vorerst nicht zu denken, erst recht wäre die jetzige afghanische Regierung damit überfordert.
Obwohl die Lage in Afghanistan noch nicht so chaotisch und lebensgefährlich ist wie im Irak, wo Terrorakte täglich Menschenleben kosten, stellt sich angesichts zunehmender Anschläge die Frage, ob dem Land eine Irakisierung bevorsteht. Die Antwort lautet bis auf Weiteres Jein: Zum einen sind die historisch-politischen Voraussetzungen, die Geografie, die ethnische Zusammensetzung, die Infrastruktur wie auch die Motive des Terrors gegen die "Besatzungsmächte" im Irak und in Afghanistan verschieden. Zum anderen zeigt jedoch die Statistik, dass die Zahl der Selbstmordanschläge in Afghanistan - mit über 100 Terrorakten seit 2005 - rapide steigt. Am Beispiel des Iraks haben die Terroristen gelernt, dass man ein Land so am effektivsten destabilisieren kann. Zwar gehören vor allem einheimische Helfer zu den Opfern - was die Sache nicht besser macht -, dennoch steigt die Zahl der betroffenen Soldaten der ISAF-Truppen und der Operation Enduring Freedom. Angehörige der internationalen Hilfsorganisationen wagen sich ohnehin kaum mehr in den Süden und Osten des Landes. Zudem haben die Auftraggeber der Selbstmord-Attentäter und die Mullahs, die ihr blutiges Handwerk gutheißen, kein Interesse an einer Stabilisierung des Landes über einen wirtschaftlichen Aufbau. Auch die nun wieder mögliche Bildung und Ausbildung der Mädchen ist ihnen ein Dorn im Auge.
Aufgrund der militärischen Auseinandersetzungen zwischen Pakistan und Indien auf der einen und der Spannungen zwischen Iran und den USA auf der anderen Seite muss auch in Zukunft mit Einmischungen von außen in die innerafghanischen Angelegenheiten gerechnet werden. Schließlich versprechen sich alle Staaten in der Region Vorteile davon, wenn in Kabul eine ihnen freundlich gesinnte Regierung amtiert. Deshalb ist es kein Zufall, dass Karsai seit 2005 Pakistan wieder verstärkt beschuldigt, Terroranschläge in Afghanistan anzustiften. Wiederholt forderte er Islama-bad auf, entschiedener gegen die Terroristen vorzugehen, die über die pakistanische Grenze nach Afghanistan gelangten.
Obwohl der militärische "Widerstand" und Terrorakte Afghanistan zu destabilisieren drohen, kann diese Entwicklung gebremst werden. Dazu müssten die Drahtzieher bald ausgeschaltet werden. Denn die paschtunischen Stammesfürsten, das Rückgrat der Taliban, Al-Qaida und das internationale Heroin-Drogenkartell werden den Frieden weiterhin mit allen Mitteln bekämpfen, auch Iran und Pakistan haben kein Interesse an einem stabilen Afghanistan. Kabul wird zudem auch in Zukunft auf die massive finanzielle Unterstützung des Westens angewiesen bleiben, um gegen die Taliban vorgehen zu können. Bereits den Sieg über die Sowjetunion verdankten die Afghanen der finanziellen und militärischen Unterstützung der USA. Heute gilt es, ein zerstörtes Land wieder aufzubauen und der Bevölkerung die Vorzüge eines demokratischen Staates zu demonstrieren und sie gegen die allgegenwärtige Progaganda der Terroristen zu immunisieren.
Die Zeit läuft: Nur wenn es gelingt, den Terrorismus zu stoppen und die Nachbarstaaten einzubinden, kann eine die Entwicklung Afghanistans hin zu einem Bürgerkrieg verhindert werden. Ob der Iran allerdings bereit ist, die USA und die NATO in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu dulden, darf bezweifelt werden. Der Ausgang des Machtkampfes um die Richtlinien der Kabuler Außen- und Sicherheitspolitik wird entscheiden, ob Afghanistan und damit ganz Zentralasien auf eine friedliche Zukunft hoffen darf oder ob der Sieg über die Taliban den geschundenen Menschen nur eine kurze Atempause verschafft hat.