Am Morgen stehe ich spät auf, um 8.20 Uhr, trinke schnell einen Kaffee, ziehe mich eilig an. Alles ist schnell in New York, jeder immer in Eile. In gewisser Weise verkörpere ich diese Eigenschaft der Stadt. Gestern bin ich zu spät ins Bett, habe deshalb heute kaum Zeit mich umzugucken. Oft sage ich Freunden, die zu Besuch kommen, dass ich regelrecht von ihrer Begeisterung zehre: Sie richten ihre Blicke nach oben, in die faszinierende Mannigfaltigkeit von Menschengesichtern hinein, und dann noch höher, die fantastischen Wälder der Wolkenkratzer hinauf. Als New Yorkerin bin ich es eher gewohnt, nach unten zu gucken, auf die Straße, damit ich den schnellsten Weg durch die Menschenmassen finde.
Diese Tatsachen des täglichen Lebens bilden den Hintergrund zu einem im Gedächtnis unauslöschlichen Tag.
Heute finden Lokalwahlen statt. Es gibt ein Wahllokal im Erdgeschoss meines Gebäudes. Ich fahre den Aufzug die 20 Stockwerke runter. Das Zimmer ist fast leer. Die zwei Wahlhelferinnen hören Radio. Eine von ihnen erzählt mir, ein Flugzeug sei in das World Trade Center gestürzt. Ich zweifle, dass die Information stimmt, und messe ihr jedenfalls nicht viel Bedeutung bei. Dann gehe ich zum ersten Mal aus dem Haus. Es ist ein wunderschöner, klarer Tag. Eine kleine Gruppe von Menschen hält sich an der Straßenecke auf. Alle gucken nach oben. Es erinnert mich an einen Science Fiction Film, in dem die Landung eines Raumschiffs beobachtet wird.
Von der Straße aus kann man tatsächlich das World Trade Center sehen, ein paar Kilometer südlich steht es. Aus einem der Türme quillt eine große schwarze Wolke. Ich denke kurz daran, ob Menschen in dem Gebäude sind, und ob sie raus können. Das ist ein unangenehmer Gedanke, und ich unterdrücke ihn. Ich muss schnell zur Arbeit. Husche runter in die U-Bahn. Dort fühle ich mich dann doch ein bisschen unwohl. Ich sehe mich um - in solchen Ausnahmezuständen sind New Yorker sehr anschlussbereit, sogar Anschluss suchend - und komme mit einer älteren schwarzen Frau ins Gespräch. Ich fühle mich ihr plötzlich sehr verbunden. Wir fahren zusammen U-Bahn, alle Leute im Wagen erzählen aufgeregt von ihren Eindrücken, fahren aber trotzdem weiter zur Arbeit. An der 53t. Straße steigen die Frau und ich aus. Am Ende sagt sie noch, sie bitte Gott, dass es ein Unfall war, nicht Absicht. Ich halte mich an diesem Gedanken noch ein paar Minuten fest. Als ich bei meiner Arbeitsstelle ankomme, ist das erste, was ich höre, dass auch der zweite Turm des World Trade Centers von einem Flugzeug getroffen wurde.
So schlägt der Terrorismus in einen Tag ein und in ein Leben. So gewinnt er Überhand über den Strom der alltäglichen Ereignisse, der dieser verrückten Stadt einen Schein von Ordnung leiht.
Bald danach, in schneller Folge, werden wir von einem Flugzeugangriff auf das Pentagon hören, von einer Autobombe am Capitol (was sich als falscher Alarm erweisen wird), von einem Flugzeug, das in Pennsylvania abstürzt, aber wohl das Weiße Haus hätte treffen sollen, und vom Einsturz des ersten Turmes, danach des zweiten. Im Büro sind wir alle eine Weile stumm, wie gelähmt.
Dann aber, und wie aus einem Trance erwachend, fallen uns die Menschen ein, die im World Trade Center und der Umgebung arbeiten. Panische Versuche folgen, Leute per Telefon zu erreichen. Ist die Familie in Sicherheit, sind es die Freunde? Handys erweisen sich als nutzlos. Nachdem die modernste Luftwaffe der Welt komplett versagte, scheint auch die ganze moderne Technik zusammenzubrechen. Kurz danach sehen wir vom Büro aus, wie sich endlose Ströme von Menschen gen Norden schieben. Wir sind mehr als fünf Kilometer vom World Trade Center entfernt, aber einige rennen immer noch.
Als ich am Abend wieder zu Hause bin, bekomme ich viele besorgte Anrufe von Freunden aus Deutschland. Ich bin gerührt und auch ein wenig überrascht. Bei einer Tragödie, die so nah ist, denkt man nicht gleich daran, wie schnell sie sich in der Welt verbreiten kann. Von dem was dann geschah, in den folgenden Wochen, haben sich mir drei Eindrücke besonders eingeprägt.
Der Patriotismus. Schon am nächsten Tag erscheinen Fahnen im Stadtbild. In meinem Gebäude zum Beispiel werden welche verteilt, die man auf die Fensterscheibe kleben kann, vor jeder Tür liegt eine. Es klingt wie Gruppenzwang, fühlt sich aber nicht so an. In dieser Zeit wollen die Leute zueinander finden. Es ist das gleiche Bedürfnis, das ich in der U-Bahn spürte: Anschluss zu finden. Sonst gibt es schließlich nicht viel, was uns alle verbindet.
Die Spannung zwischen Symbol und Wirklichkeit. Natürlich verstand man, warum das World Trade Center, als Symbol für Geld und Macht, zum Ziel der Terroristen wurde. Aber als New Yorker wusste man auch, dass die Wirklichkeit ganz anders aussah. Im World Trade Center arbeitete nicht der böse Finanzkapitalist, sondern ein breiter Querschnitt der New York Bevölkerung. Die "New York Times" druckte für Monate nach dem 11. September Bilder und Kurzbiografien der Opfer, einen kleinen Einblick in diese abgeschnittenen Leben. Vielen - den Reinigungskräften, Kellnern, einfachen Bürohilfen etwa - brachte der Job im World Trade Center nicht viel mehr ein als die Mittel zum Weiterleben. Gerade die Härte ihres Lebens verstärkte die Tragik des Ereignisses.
Die Verquickung von Verstehenwollen und Verständnis. Am 11. September war ich von den Sympa-thiebekundungen aus aller Welt überwältigt, aber schon wenige Tage später mischten sich auch ganz andere Töne in das, was ich von Freunden und Bekannten zu hören bekam. Da klang nicht selten in die Versuche, die Agenda Bin Ladens zu begreifen, eine gewisse Zustimmung hinein zu dem, was man als deren wahlweise kapitalismusfeindliche und anti-hegemoniale, oder zivilisationskritische und anti-hedonistische Grundlage auffasste. Nein, niemand wollte die Anschläge rechtfertigen, aber einigen schienen sie offenbar doch auch nicht ganz unverdient. Das war eine überraschende und verletzende Wendung für eine New Yorkerin, die zwar auch selbst ihrer eigenen Gesellschaft nie unkritisch gegenüber gestanden hatte, aber den entfachten Terror als zu entsetzlich erfuhr, um in ihm etwa noch sinnesverwandte Töne ausmachen zu können.
Heute führt man in New York ein Doppelleben. Man lebt unter der Droh-ung, es könnte wieder passieren, aber in der Zwischenzeit muss es weiter gehen - und schnell. Vielleicht guckt man sich ein bisschen öfter um als früher. Und vielleicht blickt man auch mal nach oben.
Die Autorin ist Director of Special Projects beim American Jewish Committee und lebt mit ihrer Familie in New York.