Die US-Regierung begründete ihre Invasion in den Irak mit Massenvernichtungswaffen und mit Verbindungen des Regimes zum Terrornetzwerk Al-Qaida - ohne dass sich diese Begründungen bewahrheiteten. Dennoch war der Irak für den globalen Dschihad von Bedeutung: Immer wieder hoben Osama Bin Laden und Aiman Al-Zawahiri in ihren Stellungnahmen ab Herbst 2002 die Wichtigkeit des Iraks für den globalen Dschihad immer deutlicher hervor und riefen dazu auf, ihn gegen "die Kreuzritter" zu verteidigen. Im Februar 2003 forderte Osama Bin Laden seine Anhänger in einer Audiobotschaft dazu auf, die Differenzen zwischen "gläubigen" Dschihadisten und "ungläubigen Sozialisten" der irakischen Baath-Partei zugunsten des gemeinsamen dem Kampfes gegen die USA zurückzustellen.
Die Bedeutung des Iraks für Al-Qaida ergibt sich aus ihrer Wesensart und der gleichgesinnter dschihadistischer Gruppen, deren strategischer Ausrichtung sowie der Lage des Iraks im Herzen des arabischen Kernlandes. Der 11. September 2001 war der bis dato größte Erfolg von Al-Qaida. Die US-Reaktion auf die Anschläge an diesem Tag leitete zugleich aber auch ihren Niedergang als Organisation ein, denn mit dem Einmarsch der USA in Afghanistan verlor Al-Qaida die dortigen Basen. Bis zum 7. Oktober 2001 war Afghanistan der Rückzugsraum der Führung von Al-Qaida und Sammelpunkt der globalen Dschihadisten gewesen, die dort ihre Ausbildungslager betrieben, im Kampf gegen die Nordallianz Kampferfahrung sammelten und sich untereinander vernetzten. Mit der erfolgreichen Vertreibung der Taliban, die sich so schnell auflösten, wie sie Mitte der 1990er-Jahre als Akteure die afghanische Bildfläche betreten hatten, hatte Al-Qaida ihren sicheren Hafen verloren. Osama Bin Laden ist seitdem auf der Flucht und nicht wenige führende Dschihadisten wurden in Afghanistan, Pakistan und an anderen Orten getötet oder gefangen genommen.
Jeder Anschlag, mit dem Al-Qaida nach dem 11. September 2001 ihren Fortbestand unter Beweis stellte, schwächte die Organisation zugleich. Immer wie-der konnten die Sicherheitsbehörden Al-Qaida-Mitglieder festnehmen und wichtige Knotenpunkte in den Netzwerken besetzten. Einer der größten Erfolge war 2003 die Festnahme von Khalid Sheikh Mohammed, der den Anschlag vom 11. September geplant hatte und später auch mit den Attentätern von Djerba in Kontakt stand.
Al-Qaida war 2002 jedoch nicht nur organisatorisch, sondern auch strategisch geschwächt. Obwohl Terrorakte, die wahllos Unschuldige töten, im Westen als ihr Markenzeichen gelten, kämpft die Mehrzahl ihrer Anhänger an bestehenden Kriegsschauplätzen einen guerillaartigen Krieg. Diese Strategie wendeten die Dschihadisten zunächst in den 1990er Jahren auf dem Balkan und später in Tschetschenien an, wo sie versuchten, die ursprünglich nicht aus religiösen Motiven ausgebrochenen Kämpfe in Glaubenskriege umzudeuten. Zu einem solchen Kampf war Al-Qaida in Afghanistan zumindest vorerst nicht in der Lage. Ein asymmetrischer Kampf gegen einen übermächtigen und präsenten Gegner liefert jedoch den Stoff, der zur Rekrutierung neuer Mitglieder benötigt wird. Die amerikanische Irak-Invasion bot Al-Qaida in dieser Situation die Chance, die Supermacht in einem arabischen Kernland in einen asymmetrischen Krieg zu verwickeln, in der die Dschihadisten lediglich genügend Chaos verbreiten müssen, um die Ziele der USA zu unterminieren.
Bisher ist den Dschihadisten dies zweifellos gelungen - wie gut, das zeigt sich an dem von ihnen herbeigebombten bürgerkriegsähnlichen Zuständen, mit denen die schiitische Bevölkerung und deren Milizen zu einem Bürgerkrieg angestachelt werden. Die Dschihadisten kamen erst nach dem Ende der eigentlichen Kampfhandlungen in den Irak. Die ersten ihnen zugeschriebenen Anschläge erfolgten im August 2003 gegen die jordanische Botschaft und das Hauptquartier der UN in Bagdad sowie die Imam Ali-Moschee in Nadjaf.
Gerade der Anschlag in Nadjaf gegen die schiitische Bevölkerungsgruppe war ein erster Vorgeschmack auf die immer brutaleren Versuche Al-Zarqawis, einen Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten zu entfesseln. Mussab Al-Zarqawi, der im Dezember 2004 von Bin Laden zu dessen "Stellvertreter im Zweistrom-land" ernannt wurden, stand nicht nur für diese brutalste, sich gegen alles und jeden richtende Ausprägung des Dschihadismus. Er symbolisierte auch die Zwickmühle, in der sich die Organisation Al-Qaida im Irak befindet. Zum einen wurden Zarkawis Aktionen gegen die Schiiten unter den Bin Laden Anhängern durchaus kontrovers diskutiert. Zum anderen bedeutet seine Ernennung zu Bin Ladens Stellvertreter im Irak auch, dass der Kern von Al-Qaida dort keine mit Afghanistan vergleichbaren Strukturen hat.
Nach der weitgehenden Zerschlagung als Organisation mutierte Al-Qaida zu einer Bewegung, deren An-hänger nicht mehr länger durch persönliche Kontakte miteinander verbunden sind, sondern allein durch die gemeinsame Ideologie. Ohne den Irak-Krieg und dessen Umdeutung in einen dschihadistischen Hotspot wäre der globale Dschihad vielleicht schon 2003 zerfasert und in regionale Dschihads ohne gemeinsame Klammer auseinandergefallen.
Welch geringe Erfolgsaussichten ein solcher Kampf gegen gefestigte Staatsführungen hat, zeigte sich an den erfolglosen Versuchen Al-Qaidas, in den 90er-Jahren die Regime in Algerien und Ägypten zu stürzen und zuletzt am Scheitern in Saudi-Arabien. Diese Misserfolge führten zu einem Strategiewechsel, nach dem nicht mehr der "nahe Feind" - die lokalen Regime -, sondern vorrangig der "ferne Feind" - die USA - zu bekämpfen ist.
Die Dschihadisten globalisierten also den Kampf um den Irak und kämpften dort wie die lokalen Widerstandsgruppen. Damit wurde das Land zum Zentrum des weltweiten Kampfes gegen den Terrorismus: Solange die Lage chaotisch bleibt, können die militanten Dschihadisten neue Anhänger rekrutieren und der Irak wird zur Brutstätte des Terrors. Sollte der Staatsaufbau dagegen gelingen, wird den Al-Qaida das wichtigste Argument zur Mobilisierung entzogen.
Der Autor ist freier Publizist in Berlin.