Barbie, die Plastikpuppe blondgelockter Weiblichkeit, trägt in der Installation des Londoner Künstlers Simon Tyszko einen Sprengstoffgürtel. Das "Cinnamon Girl" im Video von Prince sprengt sich in einem Flughafen. Im gefälschten Werbespot für einen neuen VW Polo ist die Fahrgastzelle so stabil konstruiert, dass der arabische Fahrer sich drinnen sprengen mag, aber der Wagen nur ein wenig wackelt.
Auf den Ameisenpfaden der Kunst und der privaten Verzweiflung erreicht uns das unheimlichste Phänomen der letzten Jahre: Selbstmordanschläge. Menschen, die töten und unbedingt selbst dabei sterben wollen, die weder vereinzelte Amokläufer, noch depressiv, noch wahnsinnig sind. Sondern ganz normal. Nie in der Geschichte überdies hat es derart viele verheerende Selbstmordattacken gegeben wie in den vergangenen Jahren im Irak mit weit über 1.000 Opfern und keinem Ende in Sicht. Gar nicht zu reden von Israel, Afghanistan, Pakistan, New York, Marokko, Saudi-Arabien, Indonesien. Menschen töten sich im Krieg in ihrem Land, aber genauso reisen Attentäter um die halbe Welt, die weder aus einem solchen Konfliktland stammen, noch ihr Attentat dort verüben, sondern vollkommen unbeteiligte Zivilisten mit ins Inferno reißen.
Dabei existiert der Selbstmordanschlag in seiner heutigen Form erst seit 1982 und hat sich permanent verändert, von den Grundlagen seines Entstehens ablöst und verselbständigt. Doch wie ist er überhaupt - wieder - in die Welt gekommen? Der Wille eines Menschen, sich zum Morden zu opfern, mag erschütternd genug sein. Dafür spricht die Macht der Assassinensekte vor 1.000 und der Kamikaze-Flieger vor 60 Jahren, die sich trotz aller militärischer Machtlosigkeit ins kulturelle Gedächtnis der Völker eingebrannt haben. Aber die Möglichkeiten des Einzelnen blieben vor Beginn der Neuzeit beschränkt auf den Mord am Einzelnen. Der biblische Samson, der die Säulen des Philisterpalastes auseinanderschiebt und seine feiernden Feinde mit sich begräbt, funktionierte nur im Mythos - formuliert aber den frühen Wunsch nach einem letzten Moment tödlicher Allmacht im Tausch fürs Leben.
Erst die technischen Möglichkeiten haben die Konsequenz des selbstmörderischen Willens potenziert. Ein paar Kilo TNT um den Bauch können genügen, Dutzende zu töten; ein paar Tapeziermesser, Tausende auszulöschen. Doch was bringt einen Menschen dazu, eine auf den ersten Blick vollkommen widersinnige Tat zu begehen, von der er nichts hat? Sind die Täter - bis auf wenige Ausnahmen der 80er- und 90er-Jahre alles Muslime - allein Verrückte, verblendet von Paradiesverheißungen für Dumme? "Das tiefste Glück des Menschen besteht darin, dass er geopfert wird", hat einer der literarischen Apologeten des Märtyrertums geschrieben: "Und die höchste Befehlskunst (besteht) darin, Ziele zu zeigen, die des Opfers würdig sind." Das könnte von Bin Laden sein. Stammt aber von Ernst Jünger, jenem wohlgelittenen, von Helmut Kohl einst hochgeschätzten Schriftsteller. Er war, 1895 geboren, begeistert in den Ersten Weltkrieg gezogen und hatte die jungen Soldaten gepriesen, die sich in die Maschinengewehrsalven ihrer Gegner stürzten. Jüngers Weltvernichtungsphantasien sind kein einsamer Irrsinn, sondern die periodisch wiederkehrende Vorstellung vom Triumph des Willens nicht bloß gegenüber dem Feind, sondern auch gegenüber sich selbst.
Dennoch verschwand mit den letzten Kamikazepiloten diese Form des mörderischen Opfertods für Jahrzehnte fast völlig. Erst Anfang der 1980er-Jahre tauchte es wieder auf, als zehntausende iranischer Jugendlicher im Krieg gegen den Irak in die gegnerischen Maschinengewehrstellungen liefen, im Namen Gottes, im Namen Khomeinis. Als ob der iranische Revolutionsführer ein lange Zeit still liegendes Instrument wieder zum Klingen gebracht hätte, mobilisierte er die fundamentalen Opfermythen des schiitischen Islams: jener rebellischen Spielart des Glaubens, die 1300 Jahre zuvor entstanden war als Revolte gegen die sunnitische Kalifen von Westen.
Im Rückblick scheint es widersinnig, dass diese Idee, die Zigtausende das Leben kostete, ohne irgendeinen Kriegsgewinn zu erzielen, zum erfolgreichen Exportprodukt wurde: Iranische Revolutionsgardisten brachten sie in den Libanon und halfen den libanesischen Schiiten beim Aufbau der Hisbollah, der "Partei Gottes" und schufen dort die "Märtyreroperation". Seit jenen ersten fünf Suizidattacken der Hisbollah 1982/83 im Libanon wissen die Guerillatruppen dieser Welt: Es genügen fünf Menschen, die bereit sind, sich zu opfern, fünf Lieferwagen, fünf Tonnenladungen Sprengstoff, eine umsichtige Vorbereitung - und eine kleine Bewegung kann den Supermächten der Welt die Stirn bieten.
Aber nicht allein die Tat zählte. Entscheidend war, dass sie eingebettet wurde in ein Geflecht aus uralten, reaktivierten Mythen, Heldenpop, Filmmusik und Ansprachen, die direkt aus dem siebten Jahrhundert zu stammen schienen. Vom Libanon aus verbreitete sich das Selbstmordattentat in der Welt, übersprang konfessionelle, ethnische Grenzen. Es erreichte 1987 Sri Lanka, 1993 die Palästinensergebiete, später die Türkei, Tschetschenien, aber immer noch blieb es die ultima ratio erbitterter Kriege gegen einheimische Herrscher oder ausländische Besatzer.
Mitte der 90er-Jahre schließlich trat Al-Qaida auf den Plan und schaffte es, opferwillige Täter von beliebiger muslimischer Herkunft zu finden zum Mord an beliebigen Opfern. Dass sie die bis dato gültige Grenze überschritt, liegt an ihrer Entstehung als die mit amerikanischer, pakistanischer, saudischer Hilfe in Afghanistan organisierte sunnitische Internationale der seinerzeit noch als "Freiheitskämpfer" gegen die sowjetischen Besatzer gepriesenen Mudschaheddin. Diese wurden nach dem Abzug der Sowjets arbeitslos - und suchten sich eine neuen Mission. Nach dem Kampf gegen die Ungläubigen im Osten folgte der gegen die im Westen. Dazu trug die Weigerung des saudischen Königshauses bei, Bin Ladens Heerscharen nach dem Einmarsch Saddams in Kuweit zum Schutz der heiligen Stätten nach Saudi-Arabien zu rufen. Stattdessen rief man die ungläubigen Amerikaner.
Aber wer sind die Täter? Seit dem 11. September 2001 haben Journalisten, Politiker, Psychologen Bilder von Dämonen entworfen: Selbstmordattentäter, hieß es, seien Fanatiker, Verrückte, Globalisierungsverlierer. Sie würden daran glauben, himmelwärts ins Paradies zu fahren, denn dort warteten in ihrer Vorstellung ja bereits 72 Jungfraufen auf jeden. Selbst wenn diese Erklärung zuträfe: Warum tauchen diese "Verrückten" gerade jetzt auf? Terroristen gab es auch schon in den 60er- und 70er-Jahren, doch die wollten überleben. Und wenn muslimische Attentäter sich sprengen, um der Paradiesjungfrauen teilhaftig zu werden, warum tun es dann auch Frauen, Säkulare und Sexualphobiker? Jene wenigen Experten, die sich eingehender mit den Tätern beschäftigt haben, vor allem israelische wie palästinensische Psychologen, kommen zu einem anderen Grund: der ultimativen Verwandlung von Ohnmacht, sei sie am eigenen Leib erfahren oder auch eingebildet, in einen letzten Moment der Allmacht. Wer nicht überleben will, ist auch durch nichts zu bedrohen.
Märtyrer sind überdies von unschätzbarem Propagandawert. Sie zeigen den Ihren: Folgt unserem Beispiel. Die Sache ist wichtiger als unser Leben und also auch als euer Leben. Und sie zeigen den anderen: Fürchtet euch! Denn wir fürchten die Unterwerfung mehr als den Tod und also fürchten wir euch nicht. Was wir in den vergangenen Jahren erleben, ist die Wiederauferstehung einer vergessenen historischen Figur: des Märtyrers. Der - islamische - Glaube ist dabei nicht Grund, sondern nur nachträglich konstruierte Legitimation für die Tat. Er spendet Trost, hebt den Tod auf in der Vorstellung vom Paradies. Doch um ihre Taten zu rechtfertigen, müssen die muslimischen Märtyrer erstmal ihre eigene Religion auf den Kopf stellen: Der Islam verbietet den Selbstmord ebenso wie das Christenum, und es bedurfte erheblicher theologischer Dehnungsanstrengungen, die Attentate zu legitimieren: Da wird argumentiert, dass der Selbstmordattentäter gar nicht sterben wolle, sondern im Paradies fortlebe.
Indem Washington "dem Terror" allgemein den Krieg erklärt hat, liefert es Bin Laden & Co. genau jene Konstellation Westen versus Islam, mit der sich deren globaler Dschihad rechtfertigen lässt. Da "der Terror" überdies keine Adresse hat, wurde unter falschen Anschuldigungen Saddams Regime gestürzt - was die Welt um einen grausamen Diktator erleichtert, aber um einen rechtsfreien Raum bereichert hat. Und genau den besiedeln nun die lose verbundenen Sektennomaden, die mit Al-Qaida soviel zu tun haben, wie eine McDonalds-Filiale mit der Konzenzentrale: Sie übernehmen das ideologische Korsett, aber operieren auf eigene Rechnung.
Im Irak sprengen sich heute Attentäter aus dem Sudan, Syrien, Saudi-Arabien vor dörflichen Polizeistationen, geben schläfrige Straßenkreuzungen mit ein paar Passanten dem Inferno preis. Alles, was vor Jahren noch unabdingbar war: der Bezug der Attentäter zum Ziel, das Angedenken an den Täter in Form von Videos, Plakaten, Bekennerschreiben, es scheint überflüssig geworden. Die Explosion des eigenen Körpers ist das Ziel, das Töten ein beliebiger Akt, und nichts wird an die Namenlosen erinnern, die um die halbe Welt reisen, um sich und andere in Fetzen zu sprengen.
Diese Anschläge haben selbst jene Binnenrationalität verloren, die ihren Aufstieg im Libanon, in Sri Lanka und Israel auszeichneten - was einerseits dafür spricht, dass sie an Anziehungskraft verlieren werden, da sich mit nihilistischen Utopien von der Reinigung der Welt letztlich kein Staat machen lässt. Andererseits sind die verschiedenen Kampfzonen im Irak, Afghanistan und nun wieder im Libanon Dank al-Dschasira und dem Internet längst zu einem System kommunizierender Röhren verschmolzen, welches ein kaum verebbendes Rekrutierungspotenzial bietet. In einzelnen Konflikten mögen die Attentate mit dessen Ende verebben. Aber solange der echte oder empfundene Krieg Israels und Amerikas gegen muslimische Länder an irgendeinem Ort fortdauert, werden sich immer neue Parasiten des Zorns finden, deren Fanal im Inferno an einem fast beliebigen Ort dieser Welt besteht.
Der Autor ist Redakteur beim "Stern".