Eine Fußballweltmeisterschaft im schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer: 62 Prozent der Deutschen, so fand das Institut für Demoskopie Allensbach heraus, sahen darin ein Indiz, dass es in ihrem Land ein Nationalgefühl gibt - genauso wie in anderen Ländern. "Die Fahnen waren ein Zeichen für einen angenehmen, fröhlichen Patriotismus", sagten 49 Prozent. Fast 80 Prozent empfanden die Identifikation mit ihrem Land als etwas Positives. 74 Prozent zeigten sich überzeugt, dass die Nation auch im vereinten Europa die entscheidende Identifikationsebene bleiben wird.
Noch 1990, im Jahr der Deutschen Einheit, hatte das demonstrative Bekenntnis zu Deutschland überwiegend Beklemmungen hervorgerufen. Nur 22 Prozent sahen die Anzeichen eines neuen Patriotismus mit Sympathie, 43 Prozent befiel Unbehagen. Das Blatt hat sich gewendet. Immer mehr halten es mit dem Dichter Reiner Kunze: "Es ist Barbarismus, dem eigenen Land und dem eigenen Volk die Liebe zu entziehen." Der Mensch kann nur ausgehend von überschaubaren, erlebbaren Räumen - Familie, Heimat, Region - auch die größeren Gebilde des Zusammenlebens begreifen. Das steht hinter den Zahlen der Meinungsforscher. Um mit Ralf Dahrendorf zu sprechen: Patriotismus ist "Voraussetzung des Weltbürgertums".
Die Patriotismusdebatte sei gesund, hört man selbst aus Kreisen türkischer Migranten: Je klarer das Verhältnis der Deutschen zu ihrem Land, desto einfacher die Integration! Der Berliner Autor Zafer Senocak sagt es so: "Wer für eine demokratische, freie Gesellschaft eintritt, muss einen freiheitlichen Patriotismus entwickeln." Und aus dem Zentralrat der Juden in Deutschland kommen ebenfalls Stimmen der Sympathie: "Wir sollten offen darüber diskutieren, wie ein gesunder Patriotismus aussehen kann, um uns eine Identifikationsmöglichkeit zu geben." Hier verschränkt sich die Patriotismusdiskussion mit einer anderen Debatte. Der Göttinger Politologe Bassam Tibi hat wohl nicht geahnt, dass der von ihm 1998 geprägte Begriff "Leitkultur" zu einen Streitwort mutieren würde, das noch nach acht Jahren Emotionen weckt. Soll mit ihm ein Überlegenheitsanspruch gegenüber Angehörigen anderer Kulturen zum Ausdruck gebracht werden? Muslimische Verbände befürchten dies. Ihr Verdikt: Die Erhebung der "deutschen Leitkultur" - der aus Syrien stammende Tibi hatte allerdings von der "europäischen" gesprochen - zum Maßstab der Politik mache alle Bemühungen um Integration zunichte.
Es ist wahr: Mit der "Leitkultur" wurde ein heißes Eisen geschmiedet. Keiner möchte sich an ihm die Hände verbrennen. Die zuweilen hysterisch geführte Diskussion spiegelt den späten deutschen Aufbruch in die Zuwanderungs- und Integrationsgesellschaft; Deutschland ist auch in diesem Punkt eine verspätete Nation. Das L-Wort fordert zum Streit heraus. Es verlangt nach Erklärung. Bleibt sie aus, kann es gehen wie mit unbearbeiteten geschichtlichen Altlasten: Sie sind giftig wie verseuchte Böden. Leitkultur, richtig verstanden, ist der zentrale Begriff für ein politisches und rechtliches Ordnungssystem, das es ermöglicht, "quasi unter dem Dach einer (nationalen) Kultur ein bereicherndes Miteinander verschiedener fremder Kulturen zu leben" (Jörg Schönbohm). Das Wort deutet auf die Notwendigkeit von Spielregeln, auf einen gemeinsamen Rechtsrahmen hin: den der Demokratie. In ihr sind die Grundwerte von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität jeglicher Verfügbarkeit entzogen. Es geht um das, was die Gesellschaft zusammen hält, was in der Zeit der Globalisierung Identität stiftet: Bewahrung der Menschenrechte, freie Entfaltung der Persönlichkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichberechtigung der Frau, Freiheit von Wissenschaft, Kunst und Kultur. Immerhin sehen nach der Allensbach-Erhebung 72 Prozent in den Freiheitsspielräumen, die Deutschland bietet, einen Anlass für Stolz, 70 Prozent in der internationalen Anerkennung als stabile Demokratie.
"Den Begriff Leitkultur kann nur jemand anstößig finden, der kulturelle Differenzen entweder leugnet oder für irrelevant erklärt", sagt Bundestagspräsident Norbert Lammert. Wo kulturelle Identitäten eine Integration erschweren oder gar verhindern, soll die Leitkultur Vorrang haben. Sie ist der Gegenentwurf zur multikulturellen Gesellschaft, in der alles nebeneinander und somit nichts wirklich gilt. Lammert wörtlich: "Der Anspruch auf Vorrang des Mannes und der Anspruch auf Gleichberechtigung der Frau können ebenso wenig gleichzeitig gelten wie der Anspruch auf körperliche Unversehrtheit und der Anspruch auf Verstümmelung von Gliedmaßen als staatlich verhängte Strafe. Der Anspruch auf unmittelbare Geltung religiöser Gebote und der Anspruch auf unabdingbare Durchsetzung staatlicher Gesetze schließen sich gegenseitig aus, ebenso wie die jeweils kulturell-historisch begründeten Vorstellungen auf weit gehende Verbindung von Staat und Kirche beziehungsweise umgekehrt der weit gehenden Trennung von Kirche und Staat."
Das Grundgesetz geht von einer naturrechtlich begründeten Würde des Menschen aus. "Leitkultur in Deutschland" ist demnach genau das Gegenteil von Fremdenfeindlichkeit. Verfassungspatriotismus wird freilich nicht ausreichen, um eine Kultur des Zusammenlebens in den Herzen zu verankern. "Er lässt die Realien und die Gemütswerte hinter sich, die andernorts das Vaterland ausmachen und an denen sich Patriotismus entzündet", gab der Staatsrechtslehrer Josef Isensee im Bonner Haus der Geschichte zu bedenken. Damit lasse sich noch nicht begründen, warum ein Volk in guten und schlechten Tagen zusammenhalten, warum alle für einen und einer für alle einstehen soll, warum der Einzelne Opfer und Transferleistungen erbringen soll, für die er kein Äquivalent erhält. Ein bloßer Verfassungspatriotismus, bemerkt auch der Pädagoge Josef Kraus, bleibe ein Notbehelf. Damit seien keine emotionalen Bindungen gestiftet: "Nur Verfassungspatriotismus, das wäre so, wie wenn man das Fußballspiel nur wegen seiner tollen und klugen Regeln mögen dürfte. Mit anderen Worten: Patriotismus braucht mehr als den Stolz auf eine Verfassung - braucht Bindung an Heimat, Kultur, Geschichte, Sprache."
Auch ein europäischer Patriotismus setzt Verantwortungsbewusstsein für das eigene Land voraus. Noch immer gilt Max Webers Diktum: "Allein die Nation kann die innere Bereitschaft des Menschen wecken, sich solidarisch und selbstlos für das Gemeinwesen einzusetzen." Ein aufgeklärter Patriotismus hat mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu tun; er hat, als Kehrseite der "Medaille Globalisierung", mit Bindung nach innen, mit innerem Frieden und Berechenbarkeit zu tun. "Er ist mehr als eine Standortdebatte" (Patriotismusforscher Volker Kronenberg). Es geht ihm nicht um die Rekonstruktion einer Blut- und Boden-Mystik des Politischen. Er will auch nicht die Geschichte schönreden. Und er braucht Symbole: die Fahne Schwarz-Rot-Gold, stellvertretend für den langen Kampf um Freiheit und Demokratie, und die Nationalhymne - eine der friedlichsten der Welt.
Gernot Facius ist Journalist in Bonn und schreibt unter anderem für "Die Welt".