Der Schriftsteller Günter Grass zeigte sich besorgt. "Wie sollen wir weiterhin die SPD als Alternative verteidigen, wenn das Profil eines Willy Brandt im Proporz-Einerlei der Großen Koalition nicht mehr zu erkennen sein wird?", schrieb er in einem Brief an den damaligen SPD-Vorsitzenden Willy Brandt. "Wir wissen, dass wir Zähigkeit und Kraft und Nüchternheit brauchen, damit der Schritt der SPD unserem Volke nützt und Ihre Sorgen nicht Wirklichkeit werden", versuchte Brandt zu beschwichtigen. Die Ankündigung, dass erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die beiden großen Volksparteien eine gemeinsame Regierung bilden wollten, stieß nicht nur bei Sozialdemokraten auf Bedenken. Schon 1962 hatten beide Parteien über eine Große Koalition diskutiert. Jetzt wurde sie Wirklichkeit: Am 1. Dezember wählte der Bundestag Kurt Georg Kiesinger (CDU) mit 340 von 460 Stimmen zum ersten Bundeskanzler einer Großen Koalition.
Vorausgegangen war ein wochenlanges Machtgerangel, in dem die Unionsfraktion händeringend einen neuen Koalitionspartner suchte. Ludwig Erhard (CDU), Bundeskanzler seit 1963, hatte in seiner eigenen Partei schon länger einen schweren Stand. Sein Vorgänger Konrad Adenauer hatte ihn nie auf diesem Posten sehen wollen. In der Bevölkerung war Erhard aufgrund seines erfolgreichen Wirtschaftsprogramms jedoch beliebt gewesen. Die Bundestagswahl im Herbst 1965 schien ihm Recht zu geben. 47,6 Prozent der Stimmen erhielt die CDU, das zweitbeste Ergebnis seit Kriegsende. Doch ein Jahr später hatte sich die Stimmung gewandelt. Eine Rezession verunsicherte Deutschland. Der Bundeshaushalt für das folgende Jahr wies eine Lücke von 7 Milliarden Mark auf. Erhard sah Steuererhöhungen als einzigen Ausweg an. Die FDP, der kleine Koalitionspartner, verweigerte die Zustimmung. Am 27. Oktober traten die vier FDP-Minister von ihren Ämtern zurück.
Einer Großen Koalition stand unter anderem einer im Wege: Ludwig Erhard. Der Bundeskanzler wollte nur mit der FDP zusammenarbeiten, war aber zunächst auch nicht zum Rücktritt bereit. "Ich weiß, welche Macht die Verfassung dem Bundeskanzler gegeben hat, ich werde sie ausnutzen bis zum Letzten", sagte er auf einer Wahlveranstaltung in Hessen wenige Tage nach dem Bruch der Regierung.
Doch dazu kam es nicht. Im Bundestag hatte die SPD am 8. November einen Antrag eingebracht, der den Bundeskanzler aufforderte, die Vertrauensfrage an das Parlament zu stellen. Ein bisher einmaliger Vorgang, der einem Misstrauensvotum gleichkam. "Wir wissen, dass der Bundeskanzler nach Artikel 68 des Grundgesetzes das Recht hat, die Vertrauensfrage zu stellen. [...] Aber der Deutsche Bundestag hat sowohl das Recht als auch die Pflicht, seine eigene Meinung zu sagen", sagte der SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner. Erhard protestierte - eine Fraktion dürfe einen Kanzler nicht zum Stellen der Vertrauensfrage auffordern -, doch der Antrag wurde mit den Stimmen von SPD und FDP auf die Tagesordnung gesetzt. Erhard gab nach. Zwei Tage später stand der neue Kanzlerkandidat fest: Kurt Georg Kiesinger, bisher Ministerpräsident von Baden-Württemberg, setzte sich gegen seine drei Mitbewerber durch - unter ihnen der Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel. Eine Protestwelle, vor allem aus dem Ausland, setzte ein. Kiesinger hatte während des Nationalsozialismus im in der Rundfunktabteilung des Auswärtigen Amtes gearbeitet. Dies wurde ihm später zum Vorwurf gemacht. Zwar konnte er diese entkräften, aber ein Makel blieb.
Trotz aller Bedenken kam die Koalition zustande. Willy Brandt wurden Außenminister und Vizekanzler, Franz Josef Strauß Finanzminister. Für beide Parteien war es offensichtlich keine Liebesheirat: "Wir müssen erkennen, dass wir keine Alternative haben und dass uns einfach zu jeder anderen Lösung die Stimmen fehlen", sagte Willy Brandt. Entgegen vieler Befürchtungen bedeutete der Zusammenschluss der beiden großen Parteien allerdings nicht das Ende der Demokratie. Eines der bekanntesten und umstrittensten Projekte war die Verabschiedung der so genannten Notstandsgesetze, die den Staat befähigen sollten, auch in Ausnahmesituationen politisch handlungsfähig zu bleiben. Zudem gelang es der Großen Koalition, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren und den Straftatbestand für Ehebruch und Homosexualität abzuschaffen. Trotz sichtlicher Erfolge wollten beide das Zweckbündnis nicht fortzusetzen. "Brandt kann Deutschland nicht führen", lautete der Spruch auf einem Wahlplakat der Unionsparteien. Die Wähler sahen das anders und gaben 1969 SPD und FDP den Regierungsauftrag.