In den Tagen, die dieser Abstimmung vorausgingen, waren diese Zahlen gelegentlich fast in den Hintergrund geraten, denn traditionell nutzten Regierung und Opposition die Haushaltsberatungen zur Generaldebatte über die Arbeit der vergangenen Monate. Den Höhepunkt erreichte diese Abrechnung am 22. November, dem Tag der Beratung des Kanzleretats - auf den Tag genau ein Jahr, nachdem die Große Koalition ihre Arbeit aufgenommen hatte: Mit Applaus, Blumen und dem Bekenntnis, man gehe öfter mal gemeinsam "einen trinken" demonstrierten Union und SPD traute Harmonie. Die Arbeit der Koalitionsfraktionen sei vertrauensvoll und verantwortungsbewusst, betonten die Redner von CDU/CSU und SPD. Die Opposition sparte dagegen nicht mit Kritik: Die Menschen müssten sich von schwarz-roter Politik "behandelt fühlen wie der Martini bei James Bond: geschüttelt, nicht gerührt", befand der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Rainer Brüderle.
Sein Parteivorsitzender Guido Westerwelle konstatierte, nüchtern sei diese "Lobhudelei nicht zu ertragen". Die Regierungsparteien versuchten, aus der Haushaltswoche "eine Art Festspielwoche der Koalition" zu machen. Das Wirtschaftswachstum, das Kanzlerin Angela Merkel als Regierungserfolg für sich reklamiere, habe "zuallerletzt" mit der Koalition zu tun. Weder baue sie die Schulden in der nötigen Weise ab, noch senke sie die Subventionen. Die so Gescholtene allerdings zog eine andere Bilanz: Der Aufschwung des vergangenen Jahres gebe "Anlass zum Selbstvertrauen, auf unserem Weg weiterzugehen". Unter der Großen Koalition halte man in diesem Jahr den europäischen Stabilitätspakt wieder ein, gleichzeitig seien erstmals seit sechs Jahren wieder sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen worden. Das Kabinett habe Eckpunkte für eine Unternehmenssteuerreform und die Erbschaftssteuerreform verabschiedet, das Elterngeld eingeführt und eine Gesundheitsreform auf den Weg gebracht. Das sei der Dreiklang von "Sanieren, Reformieren und Investieren", fasste Merkel ihre Sicht der Dinge zusammen. Nach "Jahren der Stagnation" befinde sich das Land "endlich wieder im Aufschwung". Auch SPD-Fraktionschef Peter Struck betonte, Große Koalition "heißt große Verantwortung" und dieses Bündnis sei "besser als sein Ruf".
Diese positive Einschätzung vermochte Renate Künast, Fraktionsvorsitzende der Bündnisgrünen, nicht zu teilen: Sowohl die Resultate der Gesundheitsreform als auch die der Arbeitsmarktpolitik, des Klimaschutzes und der Bildung seien unbefriedigend: "Sozial geht anders, Frau Merkel." Die Zahlen seien nach dem ers-ten Jahr der Großen Koalition "zwar gut", das sei aber "in Wahrheit die Reformdividende" der Vorgängerregierung. Auch der Chef der Linksfraktion, Gregor Gysi, zeigte sich mit der Arbeit der Koalition unzufrieden. Merkel sei zwar Frau und stamme aus Ostdeutschland, habe das aber "bisher wenig gezeigt und diesbezüglich wenig" getan. Ihre Regierung habe "dafür gesorgt, dass die Kassen im Bund, in den Ländern und in den Kommunen leer sind, indem Sie die Steuereinnahmen immer weiter gesenkt haben". Zusätzliche Belastungen wie die Mehrwertsteuererhöhung, die Reduzierung der Pendlerpauschale und die Halbierung des Sparerfreibetrags verschärften "das Ganze" noch: "Das ist nicht hinnehmbar."
Die Haushaltsberatungen wurden nicht nur für eine innenpolitische Bilanz genutzt - auch die deutsche Außenpolitik wurde zu einem großen Thema. Bereits in der Debatte zum Kanzleretat betonte Angela Merkel, die Bundeswehr erfülle im Rahmen der ISAF-Mission im Norden Afghanistans eine wichtige und gefährliche Aufgabe. Sie werde dort weiterhin Verantwortung tragen. Aber, so die Kanzlerin: "Ich sehe kein über dieses Mandat hinausgehendes militärisches Engagement." Sie werde sich auf dem NATO-Gipfel in Riga für eine Kombination ziviler und militärischer Zusammenarbeit und eine bessere Abstimmung der Partner einsetzten. Auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) lehnte eine Ausweitung des Bundeswehreinsatzes auf den Süden das Landes strikt ab. Im Rahmen der Beratungen zum Haushalt des Auswärtigen Amtes, ebenfalls am 22. November, sagte er: "Afghanistan ist aus meiner Sicht nur verloren, wenn wir es aufgeben." Peter Struck betonte, er könne Vorwürfe, "wir würden im Norden eine ruhige Kugel schieben" nicht nachvollziehen."
Den Abschluss der viertägigen Debatte bildeten am 24. November die Aussprachen zum Haushalt des Wirtschafts- und des Finanzministeriums. Dabei kündigte Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) an, die Neuverschuldung des Bundes in den kommenden Jahren stärker als geplant zurückzuführen. Dafür werde die mittelfristige Finanzplanung des Bundes überarbeitet. Danach ist eine jährliche Neuverschuldung von knapp über 20 Milliarden Euro bis 2010 vorgesehen. Gefragt nach einem konkreten Datum für einen ausgeglichenen Haushalt ohne neue Schulden fand der Minister deutliche Worte: "Ich wäre bescheuert, wenn ich das sagen würde." Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) kündigte eine konsequente Politik zur Förderung des Wettbewerbs an und sagte, Deutschland habe "die realistische Chance, vom Schlusslicht wieder zum Wachstumsmotor in Europa zu werden".
Dieser Optimismus und der so eindringlich präsentierte Schmusekurs der Koalition dürfte jedoch demnächst wieder auf die Probe gestellt werden: Auf dem CDU-Parteitag, der am 27. November in Dresden beginnt, wird die Union unter anderem die Vorschläge des nordrhein-westfälischen CDU-Vorsitzenden Jürgen Rüttgers diskutieren, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für Ältere zu verlängern. Dieser Vorstoß hatte sowohl innerhalb der Union als auch beim Koalitionspartner für Verärgerung gesorgt. In der Beratung des Etats des Arbeitsministeriums schwieg Vizekanzler Franz Müntefering dazu beharrlich - in einer SPD-Fraktionssitzung aber hatte er Rüttgers Vorschlag als "Sauerei" bezeichnet.