Immer mehr Iraker kehren ihrem Land den Rücken: irakische Christen, Iraker mit Verbindungen zum Ausland, Mitarbeiter von internationalen Nichtregierungsorganisationen und ausländischen Firmen - sie dürften nach Beginn der Anschläge die ersten gewesen sein, die das Land mit ihren Familien verlassen mussten. Doch heute, knapp vier Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins, lässt sich die Liste der Emigranten auf beinahe alle Bevölkerungsschichten ausdehnen. Der Niedergang ist zu offensichtlich, ebenso die alltägliche Gefahr.
Was in Menschen vorgeht, die im Irak ausharren wollten, weil sie nach 2003 glaubten, dass nun Freiheit und Demokratie einzögen, dies lässt sich beispielhaft in dem Buch "Khalas Haus. Eine Familie überlebt in Bagdad" nachlesen. Die niederländische Journalistin Minka Nijhuis war in den Jahren 2003 bis 2006 mehrere Male für längere Zeit im Irak. Anders als ihre wenigen im Irak verbliebenen Kollegen, die in verbarrikadierten Hotelzimmern untergebracht sind, wohnte sie während ihrer Aufenthalte im Haus einer Bagdader Familie und erlebte deren Alltag mit.
Es ist ein Alltag, der geprägt ist von Anschlägen, gefahrvollen Wegen, ständigen Stromausfällen, auseinander brechenden Beziehungen. Khala, "Tante" im Arabischen, ihre Tochter Ward und deren Mann Abbas versuchen sich inmitten Bagdads mit den Verhältnissen zu arrangieren. Dabei wird Khalas Haus immer mehr zur Insel, denn der Radius der Menschen, wird von Tag zu Tag enger. Vor allem für die Frauen. Suchten sie zu Beginn von Nijhuis Aufenthalt noch Salim, den Friseur auf - während dieses Besuches explodierten Bomben einige Straße weiter - so ist dies später nicht mehr möglich: Salim musste seinen Laden schließen, nachdem Fundamentalisten ihn bedroht hatten, weil er Frauen die Haare schneidet.
Nijhuis ist eine präzise Beobachterin, sie begleitet die einzelnen Familienmitglieder mit Sympathie, aber wahrt zugleich eine behutsame Distanz. Sie nimmt teil an ihren Sorgen und Nöten und den von Scherzen getragenen Wortwechseln. Es entsteht dabei eine irakische Innenansicht, die Vertrautes neben Unvertrautem zeigt. Und sie zeigt, was passiert, wenn ein Land die Schwelle zum Bürgerkrieg überschreitet. Wenn plötzlich Ehen zerbrechen, weil der eine Partner Sunnit und der andere Schiit ist. Ein Umstand, der im Irak vorher kaum der Rede wert war. 2006 stellt eine gemischte Ehe jedoch eine Gefahr für Leib und Leben dar. Viele werden von ihrer Familie oder radikalen Kräften zur Trennung gezwungen, obwohl sie selbst und ihre Kinder zusammenbleiben möchten. Auch die Ehe der sunnitischen Ward und dem schiitischen Abbas zerstören die Verhältnisse. Ward erzählt, dass seit dem Anschlag gegen das schiitische Heiligtum in Samarra im Februar 2006 "der Geist aus der Flasche" sei und dass es ihr unwirklich vorkomme, "das unfassbar hohe Tempo" der Entwicklungen: Auf der Straße morden sich Schiiten und Sunniten und im Haus landet das Essen der langjährigen guten Nachbarin unbesehen im Mülleimer, weil sie der anderen religiösen Richtung angehört. Kaum bemerkte sie die ersten Risse in ihrem Leben, berichtet die säkulare und gebildete Ward, da habe sie schon vor einem Trümmerhaufen gesessen. Und nun erwische sie sich manchmal selbst dabei, dass sie anfange, Schiiten zu hassen.
Entführungen, Ermordungen und Emigrationen lassen den Familien- und Freundeskreis von Khala und Ward weiter schrumpfen. Die betagte Großmutter Ana stirbt zu Hause, weil ihre Pflege im Krankenhaus nicht mehr möglich war. Die medizinischen Einrichtungen werden "unablässig mit Patienten überschwemmt", während ein Großteil der Ärzte bereits geflüchtet ist.
Ana war eine Art Urgestein jenes Bagdads, deren Bewohner stolz auf ihre Kultur, ihren Humor und ihre Offenheit sind, die sie sich - trotz Repression - unter Saddam bewahrt hatten. So fand sie auch auf ihrem Totenbett noch Gelegenheit, ihre Tochter Khala zu kritisieren, weil sie ein Kopftuch trägt; sie selbst hatte es vor etwa 60 Jahren "mit viel Vergnügen" abgelegt.
"Khalas Haus" war in den Niederlanden als "bestes journalistisches Buch 2004/2005" nominiert. Nijhuis, die in vergangenen Jahren für ihre Publikationen über Konflikte in Burma, Kosovo und Osttimor hohe Auszeichnungen erhalten hatte, aktualisierte und ergänzte ihr Buch für die deutsche Ausgabe. So verarbeitete sie ihre Irak-Reisen bis in die 1. Hälfte 2006. Weitere Aufenthalte in "Khalas Haus" dürfte es für Nijhuis in Zukunft nicht mehr geben, denn ein Nachfragen beim Verlag ergab: Ward und ihre Mutter haben mittlerweile das Land verlassen.
Minka Nijhuis: Khalas Haus. Eine Familie überlebt in Bagdad. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2006, 221 Seiten. 19,90 Euro.