Wer Orhan Pamuk liest, bildet sich oft ein, das schwarz-traurige, seelenheilende Gefühl einer ganzen Stadt zu vernehmen. Das muss an den Bildern liegen, die man im Gedächtnis hat: jenen Postkartenmotiven, auf denen Passagierschiffe hintereinander am Eingang des Goldenen Horns vertäut sind oder Menschen zu Fuß über die Galatbrücke eilen, hier, in der Stadt auf den sieben Hügeln, deren Tonspur jenen wortgewaltigen Pamuk-Sound zu Tage fördert. Ein Sound, der die zu besichtigenden Gefüge kraft ihrer Farbe ins Licht zu rücken weiß, eine literarische Stimme eben, die Einfühlung und Distanz zugleich anzeigt.
Von diesem dunklen, Tiefe verleihenden Gefühl der Stadt erzählt Pamuk auffallend häufig; die Rede ist vom "hüzün", der türkischen Variante der Melancholie, die Millionen Menschen gleichzeitig verspüren und die sie vereint, die durch Armut, Niederlagen und Verluste ausgelöst wird und die von allen Ecken und Menschen ausgehen und sich über deren kompletten Lebensraum verströmen kann. Dieses Biotop ist Orhan Pamuks Heimat. Und von ihr als sein Schicksal handelt sein neues Buch. Auf sie läuft es immer wieder auf ein Neues hinaus. Und das heißt eben immer: auf Istanbul.
Dort wurde Orhan Pamuk am 7. Juni 1952 geboren. Seither ist er den Wohnungen, Straßen und Vierteln stets treu geblieben. Es überrascht also wenig, dass Pamuk mit seinem neuen Buch nichts anderes als ein persönliches, privates Bekenntnis ablegt. Beim Nachdenken über die Stadt sinniert er gleichzeitig über sich selbst, lässt er sein Leben Revue passieren und verbindet das alles mit einfühlsamen Überlegungen zu dieser Stadt.
Pamuks Nachdenken lässt sich sehr gut mit der Arbeit eines Malers vergleichen, der in seinen Bildern Ausschnitte seiner Umwelt darstellt, hinter der sich - vielleicht schemenhaft - ein größerer Kosmos verbirgt. Solche Istanbul-Bilder sind dem Buch neben zahlreichen Fotografien großflächig beigegeben - kunstvolle Momentaufnahmen, mit denen sich der geheimnisvolle "hüzün" der Stadt erahnen lässt. Dazu passt, dass Pamuk in Wirklichkeit lange Zeit davon träumte, Maler zu werden, bis er sein Architekturstudium abbrach und die Entscheidung traf, zu schreiben.
Seinen Weg, ausgehend von den fröhlichen Kindertagen im Pamuk Apartmani in Nisantasi, das er heute wieder bewohnt, über die Freuden des Zeichnens und der Liebe hin zur Pointe, Schriftsteller zu werden, beschreitet Pamuk nicht ohne Abschweifungen. Die Suche nach dem "hüzün" nimmt er zum Anlass, in kritischen Dialog mit den Werken von "schwermütigen" Autoren zu treten, die dieses Istanbul-Bild im Laufe eines mühsamen, von Zufällen, Leseerfahrungen und ausgedehnten Spaziergängen gekennzeichneten Prozesses allmählich entwickelt haben.
Andererseits hilft uns gerade Orhan Pamuk, Istanbuls zufällige Schönheit verwahrloster geschichtsträchtiger Gegenden zu verstehen, die melancholischen, pittoresken Ansichten der Stadt. Indem er seine Lektüren ausmalt und darüber hinaus seine eigenen Stadtstreifzüge schildert, entsteht Kapitel um Kapitel ein großflächiges, überwältigendes Stadtpanorama, das keineswegs das Verdrießliche verdeckt: das Verstaubte, den Schmutz. Während die Stadt von Weltschmerz und ewigem Scheitern geprägt scheint, von Schwermut und Bedürftigkeit, verbindet Pamuk vor allem den Bosporus aufs Innigste mit Lebensfreude und Glück: "Der Bosporus ist für mich noch immer eine dem Menschen wohltuende, die Stadt und das Leben dort aufrechterhaltende unerschöpfliche Quelle der Gesundheit und der Zuversicht."
Das ist eine starke und stolze Perspektive. Der Bosporus trennt Europa und Asien. Er symbolisiert die außergewöhnliche Verortung Istanbuls als Stadt, die sich als einzige der Welt über zwei Kontinente erstreckt. Hinter der Vielfalt autobiografischer Erinnerungen wird schließlich ein zugrunde liegender Affekt sichtbar, eine Gemütsbewegung, die den immensen Erfolg des Autors erklärt und seine Authentizität beglaubigt. Orhan Pamuk lebt in Istanbul mit einem Bein in der einen Kultur und mit dem zweiten in einer ganz anderen.
Pamuk ist der Autor der modernen türkischen Eliten, des "gebildeten Istanbulers", dessen "Drang nach westlicher Lebensart", dessen "Streben nach Europäisierung" er gerne beschreibt.
Das Oszillieren zwischen Orient und Okzident ist der Katalysator dieser Literatur. Pamuk hat die Jahre 1985 bis 1988 in New York verbracht. Sein Werk ist fest in Vergangenheit und Gegenwart der Türkei verhaftet: "Die weiße Festung" erzählt die Geschichte eines venezianischen Sklaven und seines osmanischen Herrn; "Rot ist mein Name" spielt im Istanbul des ausgehenden 16. Jahrhunderts; mit "Schnee" hat Pamuk einen immens politischen Roman vorgelegt, in dem sich zu Atatürks Zeiten säkulare und religiöse Kräfte aneinander reiben.
Pamuk hat nie ängstlich geschwiegen und so erzählt, wie es sein Beruf verlangt. Als er öffentlich das Eingeständnis des türkischen Massenmords an den Armeniern forderte, wurde er wegen Verleumdung des Türkentums angeklagt. Auch die Nachricht, dass er als erster türkischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur erhält, nahm die türkische Öffentlichkeit nur verhalten auf. Mit dieser Ehrung ist seine Stimme laut geworden. Dank dieser Auszeichnung, die auf internationaler Ebene höchstes Ansehen bedeutet (im vergangen Jahr erhielt er bereits den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels), ist seine Stimme nunmehr unüberhörbar, eine Stimme, die laut Nobelpreiskomitee "neue Sinnbilder für Streit und Verflechtung der Kulturen" artikuliert.
Orhan Pamuk, der zwischen Ost und West, zwischen islamischer und westlicher Welt harmonisch hin und her pendelt, der die Menschenrechte hochhält und mit diesem Anspruch die Kulturen immer wieder als jene freien Elaborate darstellt, die sie ja sind, verbindet literarisch die vormoderne und die moderne Welt. So wie dies Istanbul geografisch seit Jahrhunderten realisiert. Sein neues Buch versammelt in diesem Sinne den Soundtrack dieser Stadt, eine "hüzün"-Melodie, die über den Dächern erklingt, den Bosporus entlang, hinaus aufs schwarz-traurige, seelenheilende Meer.
Orhan Pamuk: Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Carl Hanser Verlag, München 2006; 432 S., 24,90 Euro.