Das Parlament: Herr Kulick, im Sommer war es in Deutschland plötzlich normal, die schwarz-rot-goldene Flagge zu schwenken. Haben Sie das auch getan?
Holger Kulick: Ich nicht, aber meine Kinder mit Begeisterung. Die Fußball-Fernsehbilder steckten an. Ich habe damit auch kein Problem.
Das Parlament: Dieser neue Patriotismus hat Sie nicht befremdet?
Holger Kulick: Ich erinnere da an Johannes Rau, der gesagt hat: Patriotismus ist nicht das Gleiche wie Nationalismus. Man sollte sogar ein guter Patriot sein, der hilft, dass sein Land ein sympathisches, menschenfreundliches ist. Nur das Motto der WM war falsch: "Die Welt zu Gast bei Freunden." Das verweist darauf, dass jemand nur für eine begrenzte Zeit willkommen ist. Es hätte "Die Welt zu Hause bei Freunden" heißen müssen.
Das Parlament: Lange Zeit war der Umgang mit nationalen Symbolen wie der Flagge in Deutschland nicht so einfach...
Holger Kulick: Es war interessant, die Diskussionen während der WM im Neonazi-Milieu zu verfolgen. Die Rechtsaußen haben sich richtig darüber aufgeregt, dass so viele Menschen ganz selbstverständlich die schwarz-rot-goldene Flagge der Bundesrepublik schwenkten. Überzeugte Neonazis hassen aber diesen Staat und diese Demokratie abgrundtief. Sie wollen ja das Deutsche Reich zurück - und dazu gehört für sie schwarz-weiß-rot als Fahne. Nun fühlten sie sich von einer bundesdeutschen Mehrheit in den Stadien und auf den Straßen überrannt, die sich mit dem Hier und Jetzt identifizierte, nicht mit der Vergangenheit.
Das Parlament: Sie beschäftigen sich als Journalist schon lange mit dem Thema Rechtsextremismus. Hat sich seine Ausprägung in den vergangenen Jahren verändert?
Holger Kulick: Der organisierte Rechtsextremismus ist sehr viel raffinierter, selbstbewusster und strategisch geschulter geworden. Die Nazis schmeicheln sich geschickt bei Jugendlichen mit mangelndem Selbstwertgefühl ein, bieten dafür längst nicht mehr nur Musik und Abenteuerfreizeiten als Lockmittel an, sondern offerieren auch guten Rat, Jugend- und Hausaufgabenhilfe. Sie trainieren sogar, wie man überzeugend Klassensprecher wird. Doch Ihre Frage ist pauschal nicht ganz so einfach zu beantworten. Es gibt ja sehr unterschiedliche Formen von Rechtsextremismus.
Das Parlament: Zum Beispiel?
Holger Kulick: Besonders auffallend: die getarnten Nadelstreifen-Nazis in Parlamenten. Die geben sich als Wölfe im Schafspelz, dabei sind und bleiben sie Wölfe im Wolfspelz. Aber sie bekennen sich immerhin zu einer Partei wie der NPD, deren völkisch geprägter Rassismus und offener Faschismus erkannt werden kann. Doch es gibt auch Rechtsextreme in anderen Parteien und deren Wählerschaften, unauffällig, ganz normal mitten unter uns. Das sind die Jedermanns, die sich am Stammtisch, an der Kaffeetafel oder auf dem Schulhof rechtsradikal äußern, ohne dass ihnen jemand widerspricht.
Das Parlament: Meistens aber denkt man doch an den Typ Glatze-Bomberjacke-Springerstiefel...
Holger Kulick: ...und an die gespenstischen Aufmärsche dieser Leute. Das sind die ‚Traditionalisten' in der Szene, doch deren Zahl nimmt ab. Diese Springerstiefel-Szene ist seit Anfang der 1990er-Jahre als extrem gewaltbereit aufgefallen. Deren Ego fußt darauf, Außenstehenden schon auf den ersten Blick besonders unsympathisch zu sein. Aber immer mehr Neonazis tarnen sich immer besser. Und rechtsextreme Gewalt ist längst nicht mehr einem bestimmten Täter-Typus zuzuordnen. Fakt ist: Quer durch die rechtsextremen Milieus nimmt Gewalt wieder zu. Zum Glück aber wächst auch die Zivilcourage in der Bevölkerung. Immer mehr Menschen zeigen der Polizei solche Gewalt an, wenden sich an Opferberatungsstellen oder treten ihren Lokalredakteuren vor Ort auf die Füße, sich dem Thema zu stellen, damit es öffentlich wird.
Das Parlament: Stichwort Medien. Gibt es Ihrer Meinung nach Defizite in der Berichterstattung über Rechtsextremismus?
Holger Kulick: Oft mangelt es an Grundlagenwissen, auch ein durchdachtes Mediencoaching fehlt. Nur wenige Medien haben Experten. Was mich nervt, ist die Tatsache, dass häufig nur Klischees behandelt werden: Redaktionen drucken zum Thema stets Symbol-Fotos mit Glatzköpfen. Durch diese einseitige Illustration wird verharmlost, in welche Bereiche sich der Rechtsextremismus längst ausgebreitet hat.
Das Parlament: Wird denn genügend berichtet?
Holger Kulick: Die Medien springen zwar immer häufiger auf das Thema, wenn etwas Schlagzeilenträchtiges passiert ist. Es wird aber nicht kontinuierlich informiert und zu wenig vertieft. So kommt die Lösungssuche für das Problem viel zu kurz.
Das Parlament: In der Boulevardberichterstattung heißt es oft: Auch schlechte Publicity ist gute Publicity. Könnte das, übertragen auf die rechtsextreme Szene, bedeuten, dass man den Neonazis durch mediale Berichterstattung eine Plattform bietet?
Holger Kulick: Das ist vor allem in den 1990er-Jahren hemmungslos betrieben worden. Da gab es massenweise Bilder oder Filme, die Neonazis undistanziert porträtierten und die Post- oder Web-Adresse gleich mitgeliefert haben - wunderbare Werbung! Wichtig ist aber auch, nicht in das andere Extrem zu verfallen, also nur oberlehrerhaft über Neonazis zu schimpfen. Um Versachlichung muss es gehen mit dem Ziel, aufzuklären und Überzeugungsarbeit zu leisten.
Das Parlament: Das Motto des Bundestagsworkshops lehnt sich an ein berühmtes Zitat von Heinrich Heine an. Können Sie es in Ihrem eigenen Sinne vervollständigen? Denk ich an Deutschland in der Nacht...
Holger Kulick: ... bemühe ich mich, hellwach zu bleiben, damit Deutschland ein Land wird, indem niemand, ob fremd oder nicht fremd, Angst vor anderen Menschen haben muss.
Das Interview führte Barbara Lich.