Das Parlament: Frau Ministerin, Sie stehen derzeit im Kreuzfeuer der Kritik. Warum wirken Sie trotzdem so gelassen?
Ulla Schmidt: Gelassenheit ist einfach notwendig. Vor allem in einem Politikbereich, bei dem die Interessen so hart aufeinander treffen wie in der Gesundheitspolitik: Es geht dabei ja um sehr viel Geld, um sehr viel Einfluss. Manche Kritiker spielen mit den Ängsten und Hoffnungen der Menschen. Man muss auch wissen, dass bei allen Gesundheitsreformen der letzen 25 Jahre zum Teil wortgleiche Angriffe dagegen geführt worden sind.
Das Parlament: Der Anspruch an die Reform ist groß: In ihrem Koalitionsvertrag haben Union und SPD festgelegt, "die dauerhafte Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems durch stabile Strukturen zu sichern". Ist Ihnen das gelungen?
Ulla Schmidt: Ja. Bei den Strukturen sind uns weitreichende Fortschritte hin zu einer modernen und bezahlbaren gesundheitlichen Versorgung gelungen. Ich halte auch die Finanzreform, die wir jetzt machen, für einen richtigen Schritt. Sie wissen, dass die Sozialdemokraten lieber andere Wege gegangen wären. Wir hätten gerne durchgesetzt, dass sich alle in diesem Land zu gleichen Bedingungen an der Finanzierung beteiligen. Die Trennung zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung - auch was den Ausgleich der Risiken angeht - wollten wir am liebsten aufheben, um beide in einen fairen Wettbewerb treten zu lassen. Doch das war nicht zu machen, weil wir dafür keine Mehrheit haben.
Das Parlament: In den Anhörungen zur Reform im Gesundheitsausschuss haben Ihnen die befragten Experten übereinstimmend vorgeworfen, das Grundproblem der Reform sei, dass sie eben keine Antwort auf die Einnahmeprobleme in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gibt. Liegen die alle falsch?
Ulla Schmidt: Es gibt ernst zu nehmende Argumente und es gibt Lobbyistenpolemik. Ernst nehme ich den Wunsch nach einem höheren Steueranteil. Nun entscheidet die Bundesregierung, einen Gesundheitsfonds einzurichten, in den neben den Beitragseinnahmen der Versicherten und Arbeitgeber in wachsendem Maße auch Steuereinnahmen fließen. Was soll daran falsch sein? Bis zu 14 Milliarden Euro werden langfristig über Steuern finanziert. Das sind zehn Prozent der heutigen Gesamtausgaben. Auch das wird zu einer Stabilisierung der Beiträge führen.
Das Parlament: Glauben Sie, dass es noch Änderungen am Kompromiss der Koalition geben wird?
Ulla Schmidt: Es ist klar, dass es bei einem Gesetzentwurf, der rund 600 Seiten umfasst, im Verlauf des parlamentarischen Verfahrens Änderungen gibt. An den Grundzügen der Reform wird sich aber nichts ändern. Über die Ausgestaltung im Detail wird, wenn es berechtigte Sorgen oder Kritik gibt, miteinander gesprochen. Das gilt zum Beispiel für die Frage, wie das Insolvenz- und Bilanzierungsrecht auf die Krankenkassen, die ja zum Teil besondere Rechtsformen haben, übertragen werden kann. Das werden wir gemeinsam im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens intensiv beraten.
Das Parlament: In der Frage des Insolvenzrechts geht es vor allem darum, dass der Dachverband künftig nicht mehr für die Versicherungen einspringen wird und die Kassen tatsächlich pleite gehen können. Die Sorge ist, dass dann schon ein Gerücht ausreichen könnte, um Mitglieder aus der Kasse zu treiben. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ulla Schmidt: Nein, das ist Panikmache! Die Regierung hat kein Interesse daran, die Kassen in Schwierigkeiten zu bringen. Was wir wollen ist, dass sie sich in Zukunft nicht mehr neu verschulden. Sie sollen ein gutes Kostenmanagement betreiben und gute Versorgungsangebote machen. An diesem Prinzip halten wir fest. Grund zu der Angstmacherei, Kassen könnten ihren Verpflichtungen gegenüber Versicherten und Ärzten nicht nachkommen, besteht nicht. Die Haftung dafür ist im Gesetzentwurf ganz klar geregelt.
Das Parlament: Die Spitzenverbände der Krankenkassen haben noch eine andere Befürchtung: Ab 2009, mit Einführung des Gesundheitsfonds, prognostizieren sie einen Beitragssatz von mindestens 16,3 Prozent. Ist das realistisch?
Ulla Schmidt: Nein! Denn das würde 20 Milliarden Euro mehr an Ausgaben bedeuten! Das widerspricht den gesamten Erfahrungen der letzten Jahre. Bisher hat jede Reform dazu beigetragen, dass die Ausgabenentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung im Einklang mit dem Bruttoinlandsprodukt stattfand. Die Probleme, die wir hatten, waren vielmehr Einnahmeprobleme, weil die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wegfiel. In diesem Jahr haben wir eine bessere Konjunkturentwicklung, weshalb alle sozialen Sicherungssysteme höhere Einnahmen haben, auch die Krankenversicherungen.
Das Parlament: Von welchem Beitragssatz gehen Sie denn aus?
Ulla Schmidt: Das wäre jetzt reine Mutmaßung. Das kann man seriös auch erst Mitte, Ende 2008 einschätzen. Jedenfalls ist das Kassenmanagement aufgefordert, sorgsamer als bisher mit den Versichertengeldern umzugehen.
Das Parlament: Ab 2009 wollen Sie die Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen insgesamt völlig umorganisieren. Künftig soll der Gesundheitsfonds Beiträge und Steuergelder zentral einnehmen, um sie dann an die Kassen zu verteilen. Viele Kritiker halten das schlicht für überflüssig. Warum brauchen wir den Gesundheitsfonds?
Ulla Schmidt: Weil das System leistungsfähiger für die Patienten und Patientinnen und einfacher, zielgenauer werden muss. Einen Ansatz haben wir doch heute schon, nur reicht das nicht mehr aus. Es gibt zur Zeit den Finanzkraftausgleich (FKA) und den Risikostrukturausgleich (RSA). Beides führt das Bundesversicherungsamt in einem sehr komplizierten Verfahren durch. Beim Finanzkraftausgleich werden die 251 unterschiedlichen Einkommensstrukturen der Krankenkassen zusammengeführt und zu 92 Prozent ausgeglichen. Beim RSA werden Alter und Geschlecht, Erwerbsunfähigkeit und mittlerweile auch Programme für Chroniker ausgeglichen. Nur führt das bisher nicht dazu, dass die Kassen, die viele kranke Menschen haben, auch einen ausreichenden Ausgleich dafür erhalten.
Das Parlament: Deshalb soll es den künftig den so genannten "morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich" geben…
Ulla Schmidt: Richtig. Dieser RSA wird die Krankheitswahrscheinlichkeiten mitberücksichtigen. 50 bis 80 Erkrankungen sollen ausgewählt werden, vor allem chronische oder schwere Erkrankungen, deren Behandlungskosten 50 Prozent über den Durchschnittsausgaben pro Versichertem liegen.
Das Parlament: Der Vorsitzende des AOK-Bundesverbands argumentiert ähnlich wie Sie: Er sagt, den Fonds gibt es im Prinzip schon, er heißt nur anders und deswegen kann man auch einfach alles so lassen, wie es ist und nur noch die Krankheitswahrscheinlichkeiten in den RSA aufnehmen. Was spricht also dafür, dass die Regierung den Beitragssatz festlegt?
Ulla Schmidt: Herr Dr. Ahrens hat auch gesagt, man brauche keine Reform. Wer den Druck auf Beitragssätze und Leistungen ignoriert, fährt die Krankenversicherung gegen die Wand. Wir haben in Deutschland in allen sozialen Versicherungssystemen bundesweite Beitragssätze. Nur in dem einzigen sozialen Sicherungssystem, in dem alle den gleichen Anspruch auf Leistung haben - egal wie hoch der Beitrag ist - glauben einige, auf 251 verschiedene Beitragssätze nicht verzichten zu können. Es gibt günstige Kassen, die viele Junge und Gesunde haben, und es gibt teurere Kassen, in denen mehr Einkommensschwache oder mehr Kranke sind. Diese Kassen sind gezwungen, ihre Beiträge anzuheben. Dann verlassen die verbliebenen Gesunden und Jungen diese Kasse auch noch. Das ist eine Spirale ohne Ende. So kann man kein System stabilisieren.
Das Parlament: Warum ist denn der Widerstand dagegen so stark?
Ulla Schmidt: Sie werden Kritik vor allen Dingen von Kassenfunktionären hören. Sie wird ausgelöst, weil Machtverlust droht und weil die Finanzverhältnisse viel transparenter werden. Ein Beispiel: Wenn die Kassen heute ihre Beiträge anheben müssen, schreiben sie ihren Versicherten ‚Wir müssten nur anheben, weil wir so viel für andere im Risikostrukturausgleich zahlen müssen, wir sind dazu gezwungen'. Klar wird dabei nie, ob die Kasse tatsächlich ein gutes oder ein schlechtes Kostenmanagement hat. Mit dem Gesundheitsfonds weiß in Zukunft jeder Versicherte: Meine Kasse erhält wie jede andere Kasse aus diesem Topf das, was sie durchschnittlich für die Versorgung braucht. Dann kann er feststellen, welche Kasse damit gut wirtschaftet und welche ihren Versicherten sogar einen Beitrag zurückerstatten kann. Oder welche Kassen schlecht wirtschaften und zusätzliches Geld von den Versicherten verlangen müssen. Das ist wirkliche Transparenz für die Versicherten, und davor haben offenbar einige Angst.
Das Parlament: Die Kassen dürfen künftig auch einen Zusatzbeitrag erheben…
Ulla Schmidt: Ja, aber der darf nicht mehr als ein Prozent des sozialversicherungspflichtigen Einkommens ausmachen. Ich glaube, die Kassen werden alles tun, um diesen Zusatzbeitrag zu vermeiden. Sie werden sich vorbereiten, bis die Reform in Kraft tritt. Sie haben ja auch ganz neue Möglichkeiten der Tarifgestaltung; sie können mehr als heute über Preise verhandeln, neue Tarife anbieten und Ausschreibungen machen. Ich glaube, dass die Menschen da sehr genau hinschauen werden. Die Zustimmung zu einer Kasse hört auf, wenn man das Gefühl hat, mit meinem Geld wird nicht ordentlich umgegangen.
Das Parlament: Viele Experten befürchten, dass der Zusatzbeitrag eben nicht einen Wettbewerb um Qualität und bessere Leistungen für die Versicherten in Gang setzt, sondern sich in einer Jagd nach gesunden und gut verdienenden Mitgliedern ausdrücken wird.
Ulla Schmidt: Genau dieser Wettbewerb um die Gesunden und Besserverdienenden wird künftig nicht mehr notwendig sein. Heute ist das allerdings so. So kommen ja überhaupt die heutigen Beitragsunterschiede von vier Prozentpunkten zustande! Wenn nun aber alles Geld zu gleichen Bedingungen fließt, ist es für eine Krankenkasse erstmals völlig unerheblich, ob sie viele freiwillig Versicherte hat oder viele Arbeitslosengeld-II-Empfänger. Es ist auch in Zukunft auch kein Vorteil mehr, zufällig fast nur Gesunde zu haben.
Das Parlament: Die Zukunft der Privatversicherung (PKV) ist ein großes, sehr umstrittenes Thema dieser Reform. Ihr Verband hat Beitragserhöhungen von bis zu 28 Prozent angekündigt, allein wegen der Mitnahmemöglichkeit von Altersrückstellungen. Die Privaten fühlen sich dadurch in ihrer Existenz bedroht. Ist das alles Schwarzmalerei?
Ulla Schmidt: Diese 28 Prozent sind ja erstmal Mondscheinzahlen, weil man nicht weiß, worauf die sich gründen. Jene Menschen, die Altersrückstellungen gezahlt haben, sollen mit dieser Reform das Recht erhalten, diese auch mitzunehmen, wenn sie von einem Privatversicherer zu einem anderen wechseln wollen. Das ist nur gerecht. Es ist ein Stück Freiheit, das diesen Menschen zusteht. Wenn das zu 28 Prozent Beitragssteigerungen führen sollte, muss sich die PKV fragen, auf welchen wackeligen Annahmen sie ihre ganzen Kalkulationen aufgebaut hat. Außerdem kann die PKV doch in Zukunft um Bestandskunden werben - bisher kann sie Neukunden nur im Neugeschäft gewinnen. Durch Wettbewerb wird es überall günstiger. Warum soll es ausgerechnet bei den Privaten teurer werden?
Das Parlament: Geplant ist auch, einen Basistarif bei den Privaten Krankenkassen einzuführen. Wie soll das funktionieren? Kann man ein Privatunternehmen überhaupt zwingen, einen solchen Tarif einzuführen?
Ulla Schmidt: Das funktioniert in allen Ländern der Welt, außer in den USA und in Deutschland. Ich wehre mich schon lange dagegen, dass die PKV Kranke einfach abweisen kann. Dagegen werden ganz selbstverständlich Arbeitslose, behinderte und ältere Menschen von der Gemeinschaft der gesetzlich Versicherten getragen. Ich will aber, dass jeder in diesem Land versichert ist, und dass jeder einen Rechtsanspruch darauf hat, versichert zu sein, ohne Berücksichtigung des Krankheitsrisikos. Ich möchte, dass man da, wo besondere Not ist, füreinander einsteht und diese Lasten auch gemeinsam trägt. Und zwar auch in der PKV.
Das Parlament: Der Basistarif könnte ja besonders für ältere Versicherte interessant werden, wenn ihnen der normale Beitrag bei den Privaten irgendwann zu hoch wird. Ist das nicht ein erster Stoß in Richtung ihrer Abschaffung?
Ulla Schmidt: Nein, ich will nicht das Ende der PKV. Aber wenn ältere Menschen das Recht haben, ohne neue Gesundheitsprüfung in den Basistarif zu wechseln und ihre Krankenkasse dadurch bezahlbar bleibt, dann halte ich das für wesentlich fairer und sozialer, als wenn heute viele privat versicherte Rentnerinnen und Rentner bis zu 2.000 Euro Eigenbeteiligung zahlen müssen. Ich bin für eine soziale Gestaltung des Gesundheitswesens zuständig und nicht für die unangemessene Anhebung der Kapitaldecke der privaten Krankenversicherungen.
Das Parlament: Warum werden die Privaten dann nicht in den Gesundheitsfonds miteinbezogen, wie das unter anderem Ihr Fraktionskollege Karl Lauterbach fordert?
Ulla Schmidt: Mein Ziel war, dass alle zu gleichen Bedingungen einzahlen. Das hätte auch zu höheren Einnahmen geführt, weil der Risikoausgleich dann für alle gegolten hätte. Für den Einzelnen wäre die Belastung geringer gewesen. Beamte hätten beispielsweise wählen können, ob sie Beihilfe erhalten wollen oder einen Arbeitgeberzuschuss. Ihre Kinder hätten in der gesetzlichen Krankenkasse die Vorteile einer kostenfreien Mitversicherung in Anspruch nehmen können. Aber das war nicht durchsetzbar. Mein Eindruck ist, dass auch die privaten Kassen Lobbypolitik langfristig gegen ihre eigenen Interessen betrieben haben.
Das Parlament: Es scheint, als würden mit dieser Reform einige heilige Kühe geschlachtet. Können Sie sich vorstellen, wie unser Gesundheitssystem in 20 Jahren aussehen wird?
Ulla Schmidt: Ich hoffe, dass es genauso solidarisch ist wie heute und die Solidarität sogar noch stärker ist. Ich bin fest davon überzeugt, dass eine älter werdende Gesellschaft mehr Solidarität braucht und nicht weniger. Es sollte in Zukunft niemanden mehr geben, der ohne Krankenversicherungsschutz ist; es sollte verschiedene Kassen geben, die um ihre Versicherten und um gute Versorgungsangebote konkurrieren. Mein Wunsch ist es, dass alle Menschen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit einzahlen und jeder seine Kasse frei wählen kann.
Das Parlament: Inzwischen sind Sie ja, neben Ihrem Kollegen in Malta, die am längsten amtierende Gesundheitsministerin Europas. Was soll über Sie einmal in den Geschichtsbüchern stehen?
Ulla Schmidt: Wenn man im Nachhinein sehen würde, dass eine Menge von dem, was ich tue, richtig war, wäre das schon mal gut. Aber aktuell wird das wohl nie so sein (lacht). Schließlich geht es mir um den Erhalt unseres solidarischen Systems - für unsere Kinder und Enkel.
Das Interview führten Monika Pilath, Annette Sach und Johanna Metz.