Die ganz großen gesundheitspolitischen Konflikte sind vertagt. Zwar soll die Gesundheitsreform im Frühling 2007 in Kraft treten. Deren Herzstück, den neuen Gesundheitsfonds, hat die schwarz-rote Regierung aber auf den 1. Januar 2009 verschoben. Dann erst soll auch der erweiterte finanzielle Ausgleich von Krankheitsrisiken - der umstrittene morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (RSA) - eingeführt werden. Von diesem Schlüssel sollen solche Krankenkassen profitieren, die chronisch Kranke, Ältere und Arbeitssuchende versichern. Die Idee, den Einzug der Beiträge zu zentralisieren, ist dank lautstarker Intervention der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) im Laufe der Verhandlungen zur Reform wieder verschwunden. Zufrieden zeigen sich die hiesigen Krankenversicherer dennoch nicht. Ende November präsentierten sie den Parlamentariern eine lange Mängelliste. Darin heißt es, die Reform löse weder die "Finanzierungsprobleme" der Krankenversicherung, noch enthalte sie "umsetzbare Normen zum sinnvollen wettbewerblichen Umbau der Strukturen".
Entgegen der Koalitionsvereinbarung werden die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung deutlich steigen. Und anders als der Titel "Wettbewerbsstärkungsgesetz" vermuten lässt, enthält das Gesetz praktisch kaum Anreize für mehr Wettbewerb um die beste Versorgung von Patienten.
Allerdings ist die Große Koalition auf dem bestem Wege, erstmals am Modell der privaten Krankenversicherung (PKV) zu rütteln. Künftig soll sich kein privater Versicherer mehr weigern können, die Anfrage von Interessenten auch wirklich mit einem Angebot zu beantworten - was bisher oft der Fall war. Die schwarz-rote Regierung will die Unternehmen dazu verpflichten, künftig einen Basistarif ohne Risikoprüfung anzubieten. Dessen Prämie darf nicht höher sein als der Satz der teuersten gesetzlichen Krankenversicherung. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt will mit diesem Vorhaben die gesetzlichen Kassen entlasten. Jeder Bürger müsse das Recht auf Versicherungsschutz haben, sagt die Ministerin. "Dafür kann nicht nur die gesetzliche Krankenversicherung zuständig sein."
Tatsächlich leben heute mehrere 10.000 Menschen in Deutschland ohne Schutz vor Krankheitsrisiken. Für Wissenschaftler wie Gert Wagner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin ist der Basistarif daher der richtige Schritt, um die privaten Versicherungen für alle zu öffnen. "Warum sollen die Menschen in gesetzliche Kassen gezwungen werden, aber die privaten bleiben ausgespart?", fragt der Sozialökonom.
Allerdings verlieren die privaten Versicherer damit nicht nur einen Vorteil im Wettbewerb mit den gesetzlichen Krankenkassen. Ihr ganzes Geschäftsmodell wird infrage gestellt. Mehr als 100 Jahre gefährdete keine Reform das Modell der privaten Versicherer ernsthaft. Dass die Unternehmen "jetzt zum ersten Mal gezwungen werden, bestimmte Leistungen zu einem bestimmten Preis und ohne Risikoprüfung anzubieten", kritisiert nicht nur der Sprecher der Deutschen Krankenversicherung (DKV) in Köln als "Eingriff in privatrechtliche Verträge".
Ursprünglich hatte die Große Koalition die privaten Krankenversicherer noch viel stärker modellieren wollen. "Eine Vielzahl von Veränderungen", hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel angekündigt. Dann aber fiel in den Verhandlungen der Koalitionäre einiges weg: unter anderem der Solidarzuschlag der Privaten für den Gesundheitsfonds, die höhere Einkommensgrenze für freiwillig Versicherte oder die Idee, wonach Privatversicherte ihr gesamtes Angespartes mitnehmen dürfen, wenn sie den Anbieter wechseln. Aber auch der Rest an Reformen, den die Koalition durchsetzen dürfte, ist nach Ansicht von PKV-Chef Volker Leienbach "wenig akzeptabel" und "in Teilen verfassungswidrig".
Woher kommt der Einfluss der privaten Versicherer auf politische Entscheidungen? Ende 2005 waren 8,37 Millionen Bundesbürger privat krankenversichert. Ihre Zahl wächst seit 1975 stetig. Hinzu kommen 18 Millionen Zusatzpolicen, die meist gesetzlich Versicherte für ihre Rücken-, Augen- oder Zahnbehandlungen abschließen. Lebens- und Krankenversicherungen sind die wichtigsten Zweige der deutschen Versicherungswirtschaft. Sie liefern zwei Drittel der Umsätze der Branche, im vergangenen Jahr rund 100 Milliarden Euro. Mit dieser Macht im Rücken hat sich die Branche genügend Spielraum bewahrt, allzu große Auswirkungen des Basistarifs auf die bestehenden Tarife zu verhindern. Dazu verhandeln die Versicherer über ein Modell, das ausgerechnet dem umstrittenen Gesundheitsfonds ähnlich ist. Um die Gesundheitsrisiken der im künftigen Basistarif Versicherten auf die Privaten gleich zu verteilen, wollen sie einen unternehmensübergreifenden Pool bilden. Auch die Prämien für den Basistarif dürften nahezu identisch sein -was an die geplante Einheitsprämie erinnert, die gesetzlich Versicherte ab 2009 zahlen sollen.
Erstmals pumpt der Staat auch Steuergelder in das System der Privaten, nämlich für zahlungsunfähige Versicherte. Über die Höhe der Steuerzuschüsse streiten SPD und Union noch. Die Sozialdemokraten wollen gesetzlich und privat Versicherte mit 125 Euro bezuschussen; reicht das Geld im Basistarif nicht aus, sollen die anderen Tarife mitzahlen. Die Union will letzteres weitgehend verhindern und deshalb einen Zuschuss von 250 Euro je Versicherten zahlen.
Inzwischen hat der Ansturm auf den Basistarif begonnen. Bundesweit registrieren Versicherungsmakler täglich Dutzende Anrufe. Dennoch darf nicht jeder wechseln: Weiterhin ausgeschlossen bleiben die etwa 60 Millionen Bundesbürger, die in gesetzlichen Kassen pflichtversichert sind. In dem neuen Basistarif versichern dürfen sich dagegen alle freiwillig gesetzlich Versicherten ebenso wie ehemalige Selbstständige, privat Versicherte mit teuren Policen, Arbeitslose oder Rückkehrer aus dem Ausland, die vorher privat versichert waren.
Auch bei den gesetzlichen Kassen stehen Veränderungen an. Vor allem bei den Finanzen. Die gesetzlichen Krankenkassen sollen für das Jahr 2007 einen Bundeszuschuss aus Steuermitteln von insgesamt 2,5 Milliarden Euro erhalten. Im Angesicht einer guten Konjunktur und damit verbundener Steuermehreinnahmen von bis zu 20 Milliarden Euro hatten sich Union und SPD nachträglich darauf verständigt, den Kassen schon 2007 mehr Steuergeld zukommen zu lassen. Ursprünglich sah die Gesundheitsreform vor, erst ab 2008 einen Zuschuss von 1,5 Milliarden Euro zur Teilfinanzierung der beitragsfreien Kinderversicherung an die gesetzliche Krankenversicherung zu zahlen. Der Zuschuss sollte dann schrittweise bis 2009 auf 3 Milliarden Euro steigen und in jährlichen Schritten von 1,5 Milliarden Euro ab 2010 solange weiter anwachsen, bis zehn Prozent der Kosten - derzeit rund 14 Milliarden Euro - erreicht sind. Das entspricht der Summe, die die gesetzlichen Kassen für die Kinderversicherung ausgeben. Die gesetzlichen Kassen verlangen noch mehr Geld. Der Zuschuss "reicht lange nicht aus, um das Defizit zu decken", verkünden die Kassen von der AOK bis zum Ersatzkassenverband VdAK. Werde dies so umgesetzt, fehlten der Krankenversicherung schon im kommenden Jahr rund 6,5 Milliarden Euro, was eine durchschnittliche Erhöhung der Beitragssätze von derzeit 14,3 Prozent auf die Rekordmarke von etwa 14,9 Prozent bedeute. Allerdings ist die kletternde Prämie bei genauem Hinsehen kaum mit der Gesundheitsreform in Verbindung zu bringen. Denn Prämien treibend wirken vor allem die steigende Mehrwertsteuer, die Arzneien und medizinische Leistungen verteuert, sowie die Altschulden einiger Kassen.
Weiterhin umstritten ist der künftige Schlüssel zur Verteilung der Beitragsgelder. Der morbiditätsorientierte Ausgleich soll auf Drängen der Union auf 50 bis 80 Krankheiten, die einen gewissen finanziellen Rahmen übersteigen, begrenzt werden. Das sei sachlich nicht zu begründen, sagt Hans Jürgen Ahrens, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes. Ein Problem haben alle Kassen gemeinsam: Für sie drängt die Zeit. Denn bis zum Ende des parlamentarischen Verfahrens müssen sie alle noch versuchen - entsprechend ihrer jeweiligen Interessenslage - ihre Änderungsvorschläge durchzusetzen.
Die Autorin ist Redakteurin der Wochenzeitung "Die Zeit".