Man könnte meinen, das deutsche Gesundheitssystem ließe sich leicht in seiner tatsächlichen Qualität beurteilen. Das Gegenteil ist der Fall. Genau über diese Frage streiten sich Politik, Experten und Ärzte. Studien kommen zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen - denn bei der Qualitätsbeurteilung sind auch immer Einzelinteressen im Spiel. Es ist daher um so schwieriger, ein eindeutiges Urteil abzugeben, weil man sehr unterschiedliche Beurteilungskriterien anwenden kann: Wenn man nur die Finanzseite betrachtet, kann man zu zwei verschiedenen Urteilen kommen: Gemessen an den Pro-Kopf-Ausgaben ist das deutsche Gesundheitssystem im internationalen Vergleich nicht einmal das teuerste. Im europäischen Vergleich liegen Frankreich, Norwegen und Luxemburg weiter vorne, Deutschland befindet sich in einer Kostengruppe mit der Schweiz, den Niederlanden und Belgien. Schaut man sich den Anteil der Ausgaben umgerechnet auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) an, belegt Deutschland wiederum den europäischen Spitzenplatz.
Internationale vergleichende Studien bescheinigen dem deutschen System nur durchschnittliche Qualität bei relativ hohen Kosten. Dies gilt besonders für die Gruppe chronisch kranker Menschen. Aufrüttelnd wirkte ein Ranking des World Health Report der WHO aus dem Jahr 2000, in dem Deutschland lediglich auf Platz 25 landete. Diese Gesamtwertung ist jedoch international höchst umstritten, die Studie wurde nicht mehr wiederholt. 2005 beschränkte sich die WHO auf weniger Parameter, bei denen Deutschland dann wesentlich besser abschneidet.
Es wäre aber zu einseitig, das System nur nach seinen Kostenfaktoren zu überprüfen: Gleichberechtigung unterschiedlicher sozialer Gruppen, Kosteneffizienz, Ausgabedisziplin und schließlich das Ergebnis zählen auch. Werden die Menschen also seltener krank und schneller gesund? Gemessen an der Lebenserwartung der Menschen, die als indirekter Indikator für das Gesundheitsniveau herangezogen werden kann, steht Deutschland im internationalen Vergleich gut da, wenn auch nicht sehr gut. In der allgemeinen Debatte um die Gesundheitsreform kommt dieser Aspekt zu kurz. In Deutschland werden die Menschen laut WHO mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von derzeit 79 Jahren relativ alt, in den USA liegt der Wert derzeit bei 77 Jahren. Unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union weisen einige Länder (Spanien, Italien, Schweden) deutlich höhere Lebenserwartungen als Deutschland auf. Gegenüber der durchschnittlichen Lebenserwartung der Europäischen Union kann Deutschland für neugeborene Jungen jedoch eine um 0,2 Jahre und für neugeborene Mädchen eine um 0,3 Jahre höhere Lebenszeit aufweisen.
Ein zweiter Indikator der guten medizinischen Versorgung, den die World Health Organisation regelmäßig verwendet, ist die Säuglingssterblichkeit. Sie zeigt an, dass Neugeborene in Deutschland im europäischen Vergleich die besten Chancen haben zu überleben. Die Säuglingssterblichkeit ist in England um 30 Prozent höher, in Frankreich um 25 Prozent und in Polen beispielsweise doppelt so hoch. Das von Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) initiierte wissenschaftliche Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) betont ausdrücklich das hohe Qualitätsniveau des deutschen Gesundheitswesens im internationalen Vergleich - bei gleichzeitig hoher Unzufriedenheit der Patienten. Deutschland habe im Vergleich die kürzesten Wartezeiten, Laborbefunde seien verlässlicher und lägen schneller vor, Patienten hätten mehr Möglichkeiten bei der Arztwahl, bekämen im Krankenhaus seltener eine Infektion und wer chronisch krank sei, werde häufiger und regelmäßiger präventiv untersucht. Lakonischer Kommentar des Institutsleiters und Humanmediziners Peter Sawicki: "Wir fahren Mercedes, glauben aber einen reparaturbedürftigen Golf zu steuern."
Die Kritik am deutschen Gesundheitssystem bezieht sich also vor allem auf die mangelnde Transparenz, die Finanzierungsfrage und die scheinbar nicht in den Griff zu bekommenden Kosten auf der Ausgaben-Seite. Im europäischen und internationalen Vergleich mit den USA zahlen die Deutschen die geringsten direkten Zuzahlungen ("Out-of-pocket") für ihre Gesundheit, der Prozentsatz der Sozialversicherungsbeiträge ist dafür mit am höchsten im internationalen Vergleich. Viele Länder haben zusätzlich Nutzenbewertungen von Arzneimitteln eingeführt, um den überproportional hohen Anteil an den Ausgabensteigerungen bei Pharma-Produkten in den Griff zu kriegen. In Deutschland fehlt das bisher. Kritiker weisen darauf hin, dass hier nicht nur innovative und wirksame Medikamente, sondern auch unnötige Scheininnovationen Kosten treibend wirken.
Viele hierzulande diskutierte Probleme, wie die immer teurer werdende medizinische Versorgung und die mögliche zukünftige Überlastung der sozialen Versicherungssysteme durch den demografischen Wandel, haben alle anderen vergleichbaren Industrienationen auch. Dort wie hier wird diskutiert, ob die schwindende finanzielle Basis durch eine stärkere Belastung der Kranken, der Versicherten oder der Steuerzahler ausgeglichen werden soll. "Überall müssen Gesundheitspolitiker die Frage nach intelligenter Ressourcensteuerung für mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit in Zeiten zunehmend knapper werdender Mittel beantworten", resümiert eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung. Deutschland liegt völlig im internationalen Trend, die öffentliche Finanzierung des Gesundheitswesens zu Gunsten des privatwirtschaftlichen Sektors zurückzufahren sowie einzelne Versicherungsleistungen zu definieren, die zunehmend privat finanziert werden müssen. Unwirtschaftliche kommunale Krankenhäuser werden verkauft, heute haben private Betreiber bereits ein Viertel der Krankenhäuser übernommen. Die häufig kritisierte Zwei-Klassen-Medizin in Deutschland kann aber im internationalen Vergleich noch als mäßig ausgeprägt gesehen werden. Das heißt nicht, dass es in Deutschland in einzelnen immer völlig gleichberechtigt zugeht. Modernere und teuere Krebsbehandlungsmethoden etwa kommen in der Regel eher Privatpatienten zugute. Andererseits ist deren Nutzen im Vergleich zu den viel höheren Kosten oft umstritten. Eines kann man aber ganz sicher feststellen: Jenseits der für die Gesundheit zweitrangigen Fragen wie Wartezeiten oder Einbett-Zimmer werden gesetzlich Versicherte in Deutschland immer noch gut behandelt.
Die Autorin arbeitet als Politikjournalistin und Publizistin in Berlin.