Als sich BRD und DDR im Oktober 1990 wiedervereinten, standen sich in beiden Staaten zwei grundlegend verschiedene Gesundheitssysteme gegenüber: Auf der einen Seite das westliche Kassenarztsystem, dass durch Pluralismus, Selbstverwaltung und das so genannte Vertragsarztsystem gekennzeichnet war. Auf der anderen Seite das verstaatlichte und zentralisierte System der DDR, in dem es jeweils nur zwei Versicherungsträger gab für Arbeiter und Angestellte und für Freiberufler und die Bauern der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPGs). Im Osten Deutschlands galt die Versicherungspflicht für alle. Ein Modell, das dem nahe kam, was heute in der Bundesrepublik unter dem Schlagwort Bürgerversicherung durch politische Strategiepapiere und Reformentwürfe geistert. Außerdem war die Gesundheitsversorgung in der DDR kostenlos.
Nach der Wende war damit Schluss. Das DDR-System wurde zum Auslaufmodell erklärt, die Anpassung an das westdeutsche Gesundheitswesen eilig vorangetrieben. Für viele Protagonisten damals selbstverständlich, denn das System Ost hatte auch unter großen Mängel gelitten: Die Beiträge der Versicherten reichten hinten und vorne nicht aus, um eine angemessene Grundversorgung sicherzustellen. Es fehlte an moderner Diagnostik und Therapie, zudem waren überbordende Bürokratie, lange Wartezeiten und veraltete Geräte die Regel.
Der Mangel hatte in der DDR allerdings, wie so oft, auch dazu geführt, dass die Mediziner im Osten besondere Eigenschaften entwickelten. Sie waren sehr viel stärker vernetzt als ihre Kollegen im Westen und kooperierten häufiger über die Grenzen ihres Faches hinweg. Ausdruck fand diese Arbeitsweise im System der Polikliniken, von denen es in der DDR bis 1989 rund 1.650 gab und in denen mehrere angestellte Ärzte unter einem Dach praktizierten.
Genau um diese Polikliniken entbrannte nach der Wende ein erbitterter Streit. Der Einigungsvertrag sah vor, dass die Polikliniken nur noch übergangsweise bis zum Jahr 1995 zuzulassen waren - sofern sie wirtschaftlich arbeiteten. Spätestens bis dahin sollten sich alle Ärzte, die zuvor in einer solchen Poliklinik angestellt waren, in einer Praxis niederlassen. Dagegen aber liefen viele Betroffene Sturm, wie beispielsweise die angestellten Ärzte der Poliklinik Frédéric Joliot-Curie im Berliner Stadtbezirk Friedrichshain: "Die Mehrheit der Kollegen", erzählt Thea Jordan, heute Ärztliche Leiterin des Gesundheitszentrums, "ist damals nach vielen Diskussionen zu dem Schluss gekommen, weiter als angestellte Ärzte in diesem Haus arbeiten zu wollen. Wir wollten die Vorteile einer Poliklinik nutzen, die Nachteile der DDR-Mangelwirtschaft beseitigen und hofften, damit unseren Platz im pluralistischen Gesundheitssystem zu finden."
Die Vorteile lagen für sie und viele andere Befürworter des Poliklinik-Modells auf der Hand: "Diese Gesundheitszentren, wie sie heute heißen, können alles in einem Haus anbieten", sagt Thea Jordan. "Angefangen von der Notfallversorgung der Patienten über die Prävention bis hin zur Rehabilitation und sozialen Projekten. Das bedeutet kurze Wege für Arzt und Patient, eine bessere Auslastung teurer Geräte, die Möglichkeit zum fachlichen Austausch." Rainer Jeniche, Geschäftsführer im Verband Praxisnetze und Gesundheitszentren, könnte diese Aufzählung noch endlos fortsetzen: "Die Ärzte nutzen die teuren medizinischen Geräte gemeinsam, sie haben Zugriff auf die elektronische Patientenakte und können so Doppeluntersuchungen und riskante Medikamentengaben ausschließen. All das spart Kosten und bringt einen deutlichen Qualitätsgewinn in der Versorgung". Außerdem, fügt er hinzu, hätten die angestellten Ärzte nicht das unternehmerische Risiko einer eigenen Praxis zu tragen.
Offenbar haben diese Argumente - mit etwas Verzögerung - auch westdeutsche Politiker überzeugt. Neue Versorgungszentren durften zwar in der Bundesrepublik lange nicht gegründet werden, doch eine Änderung im Gesundheitsstrukturgesetz im Jahr 1992 ermöglichte es den wenigen verbliebenen Polikliniken im Osten Deutschlands bald, ihre Arbeit auch über das Jahr 1995 hinaus fortzusetzen. In Brandenburg, unter Gesundheitsministerin Regine Hildebrandt (SPD), wurde die Landesregierung besonders aktiv. Sie setzte Förderprogramme auf, um bestehende Polikliniken in wirtschaftlich arbeitende Medizinische Gesundheitszentren umzuwandeln. Das "Brandenburger Modell" wurde ein Erfolg - selbst Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt schaute in den Einrichtungen des Landes vorbei, als sie 2003 das Gesundheitsmodernisierungsgesetz vorbereitete. Die Folge: Mit Inkrafttreten der letzten Gesundheitsreform am 1. Januar 2004 wurde es bundesweit möglich, neue Medizinische Versorgungszentren (MVZ) zu gründen. Ein Arzt kann somit heute wählen, ob er als Angestellter oder als Vertragsarzt arbeiten will, ob er eine eigene Praxis gründet oder sich lieber in einem MVZ um seine Patienten kümmert. Knapp 500 solcher Medizinischer Versorgungszentren sind seither schon entstanden - viele davon in Hessen oder Bayern.
Johanna Metz arbeitet als freie Journalistin in Berlin.