Der jüngste Zweig der deutschen Sozialversicherung steckt seit sieben Jahren in den roten Zahlen, die Reserven der Pflegekassen schmelzen rapide dahin. Spätestens 2008, warnen Fachleute, werden die Beiträge für die rund 70 Millionen gesetzlich Versicherten von heute 1,7 auf zwei Prozent steigen müssen, wenn es keine Reform gibt. Aber obwohl die Zeit drängt, hat Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) die Pflegereform auf das kommende Frühjahr verschoben. "Bis zum Sommer 2006", so hatte Schwarz-Rot ursprünglich im Koalitionsvertrag angekündigt, werde die Koalition ein Gesetz zur Reform der defizitären gesetzlichen Pflegeversicherung (GPV) vorlegen. Jetzt will die Ministerin erst einmal die umstrittene Gesundheitsreform in trockene Tücher bringen.
Der Trend bei den Beitragssätzen von GKV und GPV hat eine klare Ursache: Die Ausgaben in beiden Sozialversicherungszweigen steigen schneller als die Einnahmen. Zum einen ist der Anteil derjenigen, die hohe Beiträge zahlen, rückläufig. Zum anderen steigt der Anteil derjenigen, die wenig einbezahlen, also Rentner und Arbeitslose. Jahr für Jahr zahlen zudem immer weniger Menschen in den Topf ein. Dieser Trend wird sich in Folge des demografischen Wandels noch verschärfen - dem System gehen schlicht die Beitragszahler aus. Die Deutschen werden immer älter, ihre Lebenserwartung steigt rapide. Während derzeit knapp 7 Millionen Deutsche älter als 75 Jahre sind, werden es in 40 Jahren Prognosen zufolge etwa doppelt so viele sein. Dies bedeutet nicht nur, dass viele Menschen viel länger Leistungen aus den Töpfen der Sozialversicherungen beziehen. Sie benötigen auch viel öfter teure Behandlungen und Medikamente, etwa gegen Alzheimer, Diabetes oder andere altersbedingte Krankheiten.
Wenn die geburtenstarken Jahrgänge der zwischen 1953 und 1973 Geborenen ins Greisenalter kommen, wird die Spitze des Eisbergs erreicht sein. Dabei wird zunächst die Rentenversicherung in die Bredouille geraten, anschließend die Pflegeversicherung. In den Jahren 2035 bis 2040 wird es in Deutschland die ungünstigste Relation von Rentnern zu Sozialversicherungs-Beitragszahlern geben. Etwa 15 bis 20 Jahre später, so schätzen Experten, wird das Problem die Pflegeversicherung erreicht haben. Dabei hat die Pflegekasse noch ein Sonderproblem: Während derzeit meist noch eines der Kinder von älteren, gebrechlichen Menschen die Pflege daheim übernimmt, werden die Hochbetagten von morgen mangels eigenen Nachwuchses seltener oder gar nicht mehr mit der Hilfe der eigenen Kinder rechnen können. Viele werden in teuren Heimen versorgt werden müssen.
Ein weiterer Kostentreiber für die Sozialsysteme ist der medizinische Fortschritt: Weil die Medizin immer mehr kann, gibt es statistisch gesehen immer mehr Kranke. Krankheiten, die noch vor wenigen Jahrzehnten ein sicheres Todesurteil bedeutet hätten, werden heute geheilt oder gemildert. Was für den einzelnen erfreulich sein mag, kommt die Allgemeinheit teuer zu stehen. Beispiel Dialyse: Früher starben Menschen häufig an den Folgen von Leber- und Nierenversagen. Heute aber haben die Patienten gute Chancen auf 20, 30 weitere gute Jahre, wenn sie sich der Dialyse unterziehen. Ein solcher Patient kostet die Krankenkassen im Jahr rund 43.000 Euro. Und während er früher kein Pflegefall geworden wäre, weil er gar kein hohes Alter erreicht hätte, ist das heute nicht ausgeschlossen. Sozialversicherungsexperten wie etwa Bernd Raffelhüschen vom Institut für Finanzwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg prognostizieren, dass der Beitrag zur Pflegeversicherung ohne Reform längerfristig bis auf sechs Prozent steigen müsste. Ideen, wie dieser Trend bei der GPV gestoppt werden könnte, sind rar. Einigkeit zwischen Union und Sozialdemokraten gibt es bisher in erster Linie bei jenen Punkten, die das System eher noch teurer machen: So soll der Kreis der heute rund zwei Millionen Leistungsempfänger erweitert werden. Demenzkranke würden dann mehr Leistungen aus der Pflegekasse erhalten. Nach ersten internen Überlegungen im Bundesgesundheitsministerium könnten dies 100 Euro zusätzlich in den Pflegestufen eins bis drei sein. Zudem würden Altersverwirrte in der so genannte Pflegestufe null - wenn sie sich noch allein versorgen könne - ebenfalls 100 Euro bekommen. Weitere Punkte, die zwischen Union und SPD weitgehend unumstritten sind: Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen an die Lohn- und Preisentwicklung angepasst werden. Zudem sollen die Sätze für Sachleistungen in der ambulanten und stationären Pflege vereinheitlicht werden. Da sie heute unterschiedlich sind, bestehen Fehlanreize, so dass Hochbetagte eher in der teuren stationären Pflege landen, anstatt zuhause betreut zu werden. Fachleute sprechen vom so genannten "Heim-Sog-Effekt", der die Kassen teuer zu stehen kommt. Ob durch die Vereinheitlichung tatsächlich gespart werden kann, hängt davon ab, wie hoch die einheitlichen Sätze künftig sein werden. Immerhin hat Schwarz-Rot im Koalitionsvertrag angekündigt, dass ein Kapitalstock aufgebaut werden soll, der die Versicherung gegen die zunehmende Alterung der Bevölkerung wetterfest machen könnte. Wie dies genau geschehen könnte, ist innerhalb der Koalition noch umstritten. "Es war ein unverzeihlicher Fehler, 1995 einen neuen Generationenvertrag ins Leben zu rufen", sagt Sozialversicherungsexperte Bernd Raffelhüschen, "obgleich die Politiker wissen mussten, dass die Generation, die den Vertrag erfüllen soll, gar nicht da ist."
Die Autorin ist Redakteurin im Parlamentsbüro der "Wirtschaftswoche".