Mit Medikamenten lässt sich hierzulande viel Geld verdienen - aus mehreren Gründen. "Mit 82 Millionen potenziellen Patienten ist Deutschland der drittgrößte Gesundheitsmarkt der Welt", sagt Elmar Esser, einst in Diensten der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) und jetzt selbstständiger Pharmaberater. "Er ist ein Paradies für Arzneimittelhersteller", sagen Koalitionäre hinter verschlossenen Türen. Denn: In Deutschland darf jeder Hersteller selbst bestimmen, zu welchem Preis ein neues Medikament auf den Markt kommt. Eine Regelung mit Mehrfachnutzen für die Produzenten: An dem vergleichsweise hohen deutschen Preisindex orientieren sich EU-Staaten wie Großbritannien, Frankreich oder Spanien, wenn sie mit den Pharmakonzernen die dort üblichen Obergrenzen für Medikamente verhandeln. Außerdem fällt in Deutschland jedes neu zugelassene Medikament sofort unter die Erstattungspflicht der Krankenkassen wie sonst nur in den USA. Eine Positivliste, die die Zahl der Präparate begrenzt, verhinderten bisher Hersteller und Union. Und das, obwohl etwa eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt, dass Staaten mit Positivliste wie die Niederlande oder Finnland etwa mit einem Drittel weniger Geld für Arzneien auskommen, ohne dass messbare Nachteile für Patienten entstünden.
Schon 1976 forderten SPD-Politiker, die Vielfalt von etwa 50.000 Präparaten einzudämmen. Nur die in der Positivliste aufgeführten Arzneien sollten Kassen erstatten. Im Jahr 1992 wurde die Liste zwar zwischen Union und SPD vereinbart, sie kam aber nie über einen Entwurf hinaus. Berühmt-berüchtigt ist bis heute, wie der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) die Liste 1995 dem Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie (BPI), Hans Rüdiger Vogel, als Geburtstagsgeschenk überreichte - in tausende Teilchen zerschreddert.
Die rot-grüne Bundesregierung unternahm 2003 den bisher letzten Anlauf. Sie versprach sich von der Liste jährliche Einsparungen in Höhe von 800 Millionen Euro. Um nicht im Bundesrat an der Union zu scheitern, plante Ministerin Ulla Schmidt (SPD) statt einer zustimmungspflichtigen Rechtsverordnung ein nicht zustimmungspflichtiges Gesetz zu verabschieden. Die Abgeordneten sollten über die Erstattungsfähigkeit von etwa 2.000 aufgeführten Wirkstoffen entscheiden. Aber auch Schmidt machte einen Rückzieher. Um die Verhandlungen mit der Union um die damalige Gesundheitsreform nicht zu stören, hieß es im Umfeld der Ministerin, verschwand die Liste von der Tagesordnung des Bundestags. Vor allem Hersteller, deren Präparate nicht vertreten waren, hatten sich massiv gewehrt und die Unterstützung der Union erhalten. "Die Kostenexplosion ohne Qualitätsgewinn ist für die Beitragszahler ein Zumutung", kritisiert SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach.
Inzwischen liegt das hiesige Gesundheitssystem international bei den Kosten an der Spitze und bei der Qualität im Mittelfeld. Gesetzliche Krankenkassen gaben 1994 rund 16,1 Milliarden Euro für Arzneimittel aus. Zehn Jahre später waren es 22,8 Milliarden Euro, im vergangenen Jahr 23,4 Milliarden Euro. Vor allem neue patentgeschützten Medikamente verheißen Pharmaunternehmen oft maximale Erlöse bei meist minimalen Kosten und das bis zu 15 Jahre lang ab Zulassungstag. Doch welche Medikamente sind wirklich innovativ? "Fortschritt und Schaden liegen selten so nahe beisammen wie im Streit um Innovationen", sagt Johannes Lütz vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (bfarm). Zwar könne ein modifiziertes Molekül schon massive Heilungsfortschritte bewirken. Aber muss es deshalb patentrechtlich als Innovation geschützt und als solche honoriert werden, wie der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) fordert?
Politiker und Pharmaunternehmen streiten seit 26 Jahren darüber, welche Medikamente als Innovationen patentrechtlich geschützt und welche Kosten die Kassen übernehmen sollen. Zuletzt erstatteten Krankenkassen zwischen 5 und 7 Milliarden Euro für patentgeschützte Scheininnovationen, die für Patienten nachweislich ohne Zusatznutzen waren. Eine Positivliste hätte für die Pharmaindustrie erhebliche Auswirkungen. Die Aufstellung wirksamer Präparate würde die Unternehmen unter Druck setzen, echte Innovationen auf den Markt zu bringen und gleichzeitig die Gefahr für Scheininnovationen verringern. Teure Scheininnovationen sind aber nur ein Teil der Misere um hohe Arzneimittelpreise. Auch Patienten, die etwa ihre jährliche Herbst-Erkältung ohne Konsultationen beim Arzt kurieren wollen und sich rezeptfreie Medizin besorgen, spüren den Preisauftrieb. Jahr für Jahr erhöhen viele Hersteller die Preise für frei verkäufliche Grippemittel, homöopathische Arzneien oder Schmerzmittel. Patienten müssen höhere Preise zahlen, ohne dass es medizinische Verbesserungen gegeben hätte.
Insgesamt 24,6 Milliarden Euro gaben Patienten und Krankenkassen im Jahr 2005 für Medikamente aus. Die Ausgaben stiegen seit 1995 um mehr als 60 Prozent. Um die Kosten zu senken, mahnen Sachverständige mehr Wettbewerb an. In einem Gutachten für das Gesundheitsministerium schlagen Experten um die Ökonomen Dieter Cassel und Eberhard Wille vor, die Preise für Arzneien künftig zwischen Kassen und Herstellern verhandeln zu lassen. Jede Kasse soll eine Positivliste mit Medikamenten aufstellen, die ihre Versicherten auf Rezept erhalten. Alle heute gültigen Preiseingriffe wie Festpreise oder Zwangsrabatte wollen die Ökonomen dagegen streichen. Gesundheitsstaatssekretär Klaus Theo Schröder versicherte zwar, das noch von der rot-grünen Regierung beauftragte Gutachten werde nicht in die Ecke gestellt. Bei der aktuellen Gesundheitsreform sei aber nicht geplant, Positivlisten einzuführen, die einzelnen Krankenkassen die Möglichkeit gäben, für bestimmte Indikationen ein bestimmtes Präparat aus einer Vergleichsgruppe hervorzuheben.
Die Autorin ist Redakteurin der Wochenzeitung "Die Zeit".