Die Deutschen geben mehr für ihr Gesundheitssystem aus als alle anderen Staaten - von der Schweiz und den Vereinigten Staaten abgesehen. Gesünder sind wir deshalb nicht. Sicher ist aber, dass der Staat einiges sparen könnte, wenn er das System effizienter und transparenter gestalten würde.
Zunächst ein Gedankenspiel: Ein Autohändler übernimmt für seinen Kunden die Entscheidung, ob der überhaupt einen Wagen braucht. Dann verkauft er ihm ein Auto mit der Ausstattung, die er für richtig hält. Das Ganze wird nicht direkt vom Autofahrer bezahlt, sondern von einer Versicherung. Das Angebot schafft sich die Nachfrage selbst. Wahrscheinlich würden so bald ungewöhnlich viele Gefährte der Oberklasse auf den Straßen zu sehen sein.
Unmöglich? Fast. Denn so ähnlich laufen Entscheidungen zwischen Arzt und Patienten ab. Natürlich können Kranke oft nicht abschätzen, was ihnen fehlt und was sie brauchen. An dem Punkt eröffnet sich aber den Anbietern im Gesundheitswesen eine Bandbreite an Möglichkeiten. Sicher gilt für Ärzte, dass sie ihren Patienten möglichst gut helfen wollen. Allerdings hängt von solchen Entscheidungen auch ab, was zum Beispiel niedergelassene Mediziner als Honorar verdienen.
Um beim Autovergleich zu bleiben - Kritiker beschreiben das Gesundheitswesen hier zu Lande auch so: "Man bezahlt einen Mercedes und bekommt einen Golf." Damit spielen sie darauf an, dass die Deutschen nach den US-Amerikanern und den Schweizern weltweit am meisten für ihre Gesundheit ausgeben. Immerhin sind es rund elf Prozent der Wirtschaftsleistung. Andererseits sind sie nicht gesünder als andere in Europa und landen bei der Lebenserwartung mit knapp 79 Jahren nur im Mittelfeld der EU, hinter Frankreich, Italien, Spanien oder Schweden.
Rund 240 Milliarden Euro also geben die Deutschen im Jahr für Gesundheit aus. Mit 140 Milliarden Euro kommen die gesetzlichen Kassen für einen Großteil der Summe auf. Der Rest wird von privaten Versicherungen oder direkt vom Patienten gezahlt. Die Gesundheitsbranche ist als Arbeitgeber wichtiger als die Autobranche. Rund 4,2 Millionen Menschen arbeiten hier - sei es als Arzt, Apotheker, Pfleger, Heilpraktiker, Optiker oder als Sprechstundenhilfe.
Diese Zahlen bedeuten aber nicht nur, dass hohe Kosten anfallen. Sie zeigen auch ein weiteres Dilemma. Einerseits wird Gesundheit von Politikern wie von Arbeitgebern, die einen Teil der Kassenbeiträge zahlen, als Kostenfaktor betrachtet, der begrenzt werden muss. Andererseits handelt es sich um eine Wachstumsbranche, die nicht nur einer steigenden Zahl Menschen Arbeit gibt. Viele sind auch bereit, privat etwas für die Gesundheit zu bezahlen.
Unbestritten ist, dass das deutsche System wenig transparent ist. Deshalb ist eine Kostenkontrolle schwer. Schon seit dem Jahr 2001 kritisieren die von der Regierung beauftragten Sachverständigen für das Gesundheitswesen, in Deutschland gebe es gleichzeitig eine Über-, Unter- und Fehlversorgung. Manche Patienten bekommen zu viel, manche zu wenig und andere das Falsche. Wie viele Milliarden Euro sich sparen ließen, wenn das System effizienter organisiert wäre, lässt sich nur schwer beziffern. Die Schätzungen reichen von um die 10 bis zu 40 Milliarden Euro.
Ein Grund dafür ist, dass Deutschland sich eine Doppelstruktur an Ärzten leistet. In den meisten Ländern praktizieren Fachärzte in Krankenhäusern und medizinischen Versorgungszentren. In Deutschland arbeiten selbstständige Radiologen, Orthopäden oder Neurologen mit eigenen teuren Apparaten parallel zu ihren Klinikkollegen. Seit 1955 sind ihre Praxen weitgehend vor Krankenhaus-Konkurrenz geschützt. Das Prinzip soll aufgeweicht werden. Bisher dürfen Krankenhäuser Menschen aber in der Regel nur behandeln, wenn sie über Nacht bleiben. Nach Schätzungen des Gesundheitsökonomen und SPD-Bundestagsabgeordneten Karl Lauterbach ließen sich bis zu zehn Milliarden Euro sparen, wenn es die Dopplung nicht gäbe.
Überversorgung herrscht zum Beispiel auch, weil es in größeren Städten viele Ärzte gibt. Zwischen 1991 und 2004 stieg die Zahl der niedergelassenen Ärzte um fast ein Drittel. Inzwischen gibt es knapp 77.000 Einzelpraxen und 18.000 Gemeinschaftspraxen im Land. Dazu kommen noch 55.000 Zahnärzte. "Ärztehopping" ist weit verbreitet, weil Versicherte keinen Überblick über die Kosten haben und derjenige, der unnötig zu mehreren Ärzten geht, auch nicht mehr zahlen muss als der, der nur selten eine Praxis aufsucht. Deutsche gehen etwa doppelt so häufig zum Arzt wie Dänen - sie fühlen sich aber nicht so gesund. Auch wenn sich zu wenige Ärzte in ländliche Regionen niederlassen, kommen insgesamt weniger Patienten auf einen Mediziner als in den Nachbarländern. Das wissenschaftliche Institut der AOK-Krankenkassen schätzt, dass jede zweite ärztliche Leistung "angebotsinduziert" ist. Das heißt: Nicht unbedingt nötig, aber vom Arzt trotzdem vorgenommen.
Ein weiterer Grund für die hohen Beträge im Gesundheitswesen ist, dass Medikamente verhältnismäßig teuer sind. 23,4 Milliarden Euro gaben die Kassen im vorigen Jahr für Medikamente aus, 13 Prozent mehr als noch 2004. Die Pharmaindustrie hat es hier immer wieder geschafft, Gesundheitspolitiker auszutricksen.
Zum einen bedienen sie sich des wirksamen Arguments in der Öffentlichkeit, nur durch teure Forschung ließen sich innovative und wirksame Mittel finden. So wurde etwa eine Positivliste verhindert, die vorab festlegen sollte, welche Präparate wirksam und wirtschaftlich sind. Andererseits sind unter den neuen Produkten der Branche oft Scheininnovationen, Präparate also, die nur minimal - etwa bei der Darreichungsform geändert wurden. Für neue Medikamente lässt sich der Preis frei festlegen, bei älteren droht die Konkurrenz billigerer Nachahmerprodukte. 60.000 Arzneimittel sind so auf dem deutschen Markt, ein Vielfaches der Zahl in anderen europäischen Ländern. Entsprechend höher liegen auch manche Preise. Manche Medikamente sind hierzulande bis zu viermal so teuer wie in anderen EU-Staaten.
Weder mit dem jüngsten Arzneimittel-Spargesetz noch mit der Gesundheitsreform gelinge es, die Versicherten zu entlasten, sagt der Herausgeber des Arzneiverordnungs-Reports, Ulrich Schwabe. "Dieser Regierung fehlt es nicht nur am Mut zu sozialen Reformen, sie ist auch beratungsresistent", attackiert der Pharmakologe auch die Rolle der Großen Koalition. Überdies sei der Einfluss der Pharmaindustrie auf die Ärzte besonders groß. In Schweden oder Großbritannien kosteten gängige Mittel oft nur ein Zehntel des deutschen Preises. Ein Grund für die hohen Kosten der Kassen ist auch, dass Apotheker immer noch zu einer geschützten Berufsgruppe gehören. Apothekenketten gibt es nicht. Eine Apotheke versorgt im Schnitt knapp 3.900 Einwohner, in Holland sind es 9.700. Internetapotheken sind bisher kaum eine Konkurrenz.
Aber auch die Kassen nehmen es mit den Kosten manchmal nicht so genau. Die rund 250 gesetzlichen Kassen geben im Jahr 8 Milliarden Euro für die Verwaltung aus, das sind 160 Euro pro Mitglied. Diese fünf Prozent aller Ausgaben sind niedriger als bei den privaten, die ganz anders um die Gunst ihrer Kunden werben. Allerdings scheint es auch noch bei den gesetzlichen Kassen ein gewisses Polster zu geben.
Gesundheitsministerin Ulla Schmidt hat bereits öfter kritisch angemerkt, dass es Hunderte von Vorständen auch bei kleinen Kassen gebe, "die alle ziemlich gut bezahlt werden". Sogar der Rechnungshof prüft nun, ob die Gehälter angemessen sind.
Das Sozialgericht Speyer hatte zuvor bestätigt, dass die gesetzlichen Kassen die Bezüge ihrer Vorstände in den Mitgliederzeitschriften veröffentlichen müssen. Zwischen den Bezügen gibt es enorme Unterschiede. Die Grundgehälter bewegen sich je nach Kassengröße zwischen etwa 70.000 und 220.000 Euro im Jahr. Hinzu kommen Prämien, Altersversorgung und häufig ein Dienstwagen. Zum Teil sind die Gehälter auch zwischen den Vorständen etwa gleich großer Kassen breit gestreut: So bewegen sich die Grundvergütungen bei Kassen mit rund 300.000 Versicherten zwischen 100.000 und 160.000 Euro im Jahr. Auch hier sehen Kritiker ein erhebliches Sparpotenzial.
Bleiben noch die knapp 2.200 Kliniken. An sie überweisen die Kassen mit knapp 50 Milliarden Euro die größte Summe pro Jahr. Noch immer liegen deutsche Patienten im Schnitt fast neun Tage im Krankenhaus, Franzosen sechs Tage. In deutschen Kliniken gibt es derzeit einen Überschuss von fast 50.000 Betten, glaubt man Studien von Unternehmensberatern. Danach sind die Häuser häufig schlecht organisiert, Personal werde zur falschen Zeit am falschen Ort eingesetzt und die Kliniken arbeiteten insgesamt zu kostenintensiv. Die Wirtschaftsprüfungs-Gesellschaft Ernst & Young geht deshalb davon aus, dass der Druck auf die Kosten zunimmt und bis 2020 jede vierte Klinik dicht macht.
Die Autorin arbeitet als Politikkorrespondentin der "Financial Times Deutschland" in Berlin.