Ein bisschen ist Sigrid Fesser zur Landärztin geworden. Etliche Patienten der 49-jährigen Augenärztin kommen von weit her. Eine Frau fährt sogar knapp 150 Kilometer von Prenzlau im nordöstlichen Brandenburg zu ihr. Andere nutzen die Regionalbahnen aus Rathenow oder Wittenberge. 30 oder 40 Minuten Fahrzeit kommen für viele zusammen. Sigrid Fesser praktiziert allerdings nicht auf dem Dorf. Ihre Praxis liegt mitten in Berlin am Bahnhof Friedrichstraße. Die sehr gute Lage für eine Arztpraxis beschert ihr viel "Laufkundschaft", aber auch die Leute vom platten Land, wo es kaum noch Fachärzte gibt. "Bei den wenigen, die es dort noch gibt, bekommen sie keine Termine", sagt die Medizinerin.
Über ihre unverhofften Brandenburger Patienten kann sie sich nur bedingt freuen. "Es sind alles Kassenpatienten, und das lohnt sich finanziell überhaupt nicht für mich." Inzwischen fangen Ärzte in den Städten das auf, was auf dem Land fehlt, seit dort ältere Ärzte ihre Praxen dicht machen und sich kein Mediziner-Nachwuchs mehr locken lässt. "Es wird noch schlimmer werden", prophezeit Fesser. Sie sagt, dass ihre Praxis nur funktioniert, weil sie Privatpatienten hat. Außerdem passt sie Kontaktlinsen an, macht Akupunktur und spritzt Botox, das Präparat, das Gesichtsmuskeln lähmt und so zu glatterer Haut verhilft. Das wird privat bezahlt und bringt extra Einkommen.
Umstritten ist, ob es zu wenige oder zu viele Ärzte in Deutschland gibt. Insgesamt praktizieren knapp 120.000 niedergelassene Mediziner. Dazu kommen die Ärzte in Kliniken. So kommt statistisch ein Arzt auf 269 Patienten, in Irland sind es 387, in Norwegen 345 und in Frankreich immerhin 294. Das hängt auch damit zusammen, dass in den meisten Ländern Fachärzte nur in Kliniken arbeiten. In Deutschland praktizieren Spezialisten in Krankenhäusern und zusätzlich Fachärzte in eigenen Praxen.
Klar ist, dass die Versorgung der Patienten in Deutschland extrem ungleich ausfällt. In vielen Großstädten gibt es mehr Fachärzte als gebraucht werden. In München gibt es etwa doppelt so viele Internisten wie medizinisch nötig. Und nach einer Studie der AOK praktizieren im reichen Landkreis Starnberg südlich der bayerischen Metropole sogar fünfmal so viele Internisten wie gebraucht würden. Dort gibt es viele Privatpatienten. Außerdem sind in Bayern die Pauschalbeträge, die die Ärzte bekommen, pro Patient recht hoch. Die Folgen: Wenn es viele Praxen gibt, schaffen die sich ihre Nachfrage teilweise selbst, weil die Mediziner Diagnosen und Behandlungen für ihre Patienten bestimmen. Bei Kassenpatienten schmälert das das Honorar aller Ärzte, weil jedes Jahr nur ein bestimmter Gesamtbetrag vorgesehen ist.
Das macht es inzwischen unattraktiv, sich als Landarzt in entlegenen Gebieten niederzulassen. Dort gibt es keine lukrativen Privatpatienten, außerdem sind die Wege zu den Kranken weit und die Arbeitszeiten lang. Zurzeit gibt es für rund 1.000 Praxen in Deutschland keinen Arzt - davon für etwa 750 in Ostdeutschland, aber auch für 250 im Westen. Das klingt, als wäre es nicht viel. In manchen Regionen aber fehlen die Fachärzte und Hausärzte sind gerade für alte Menschen ohne Bus und Bahn kaum erreichbar. Die von Berlin entfernten Gebiete Brandenburgs, wo die neue Kundschaft von Augenärztin Fesser herkommt, sind besonders betroffen. Aber auch in der Oberpfalz in Bayern fehlen Gynäkologen und Augenärzte.
Ein gewisses Überangebot sorgt also zugleich für den Mangel, über den Ärzte und manche Patienten klagen. Nur fühlt sich bisher keiner in den Ärzteverbänden oder in der Politik gewachsen, dieses Dilemma wirklich aufzulösen. Zu stark wären wohl die Widerstände bei den Ärzten selbst, wenn nicht mehr Geld flösse, sondern es anders verteilt würde und manche aufgeben müssten.
Einen Versuch machte der Bundestag Ende Oktober. Er verabschiedete ein neues Recht für Vertragsärzte. So sollen sich Praxisärzte leichter zusammenschließen dürfen und Kollegen in der Praxis unbegrenzt anstellen können. Wo Medizinermangel herrscht, sollen Zuschläge die Arbeit attraktiver machen. Und auch die Altersgrenze für Ärzte fällt in abgelegenen Regionen: Sie dürfen nun länger als bis 68 praktizieren.
Gerade in Ostdeutschland ist es ein großes Problem, dass sich viele niedergelassene Ärzte dieser Altersgrenze nähern. Aber die Ärztevertreter dort halten die neuen Möglichkeiten für nicht Erfolg versprechend. Ralf Herre von der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg klagt: "Es geht an der Realität vorbei, wenn die Ärzte jetzt länger als bis 68 Jahre arbeiten sollen. Weil die Belastung so hoch ist, geben sie bei uns ihre Praxis im Schnitt schon mit 61 Jahren ab." Im Jahr 1996 habe es in Brandenburg erst 172 Hausärzte über 60 gegeben, 2005 seien es bereits 469 gewesen, die in diesem Alter noch praktizierten. Im Land sei schon jetzt ein Arzt statis- tisch für 824 Einwohner zuständig, in der menschenleeren Uckermark für 1.470 Menschen. Die Kassenärzte, die eine flächendeckende Versorgung sicherstellen müssen, versuchen nun mit finanzieller Unterstützung Nachwuchs zu locken, etwa mit Umsatzgarantien zum Start. "Aber wir müssten die Leute eigentlich mit dem Lasso einfangen", sagt Herre.
In vielen Krankenhäusern schaffen nun zum Teil ausländische Ärzte Abhilfe. Ihre Zahl stieg nach Rechnung der Bundesärztekammer von 6.580 im Jahr 2000 auf 10.300 im Jahr 2005. Davon kamen 960 Ärzte aus Russland, 850 aus Österreich und 800 aus Polen. Im Krankenhaus des grenznahen Eisenhüttenstadt in Brandenburg ist schon mehr als jeder fünfte Angestellte ausländischer Herkunft. Unter den Brandenburgern insgesamt hat nur jeder 50. Einwohner keinen deutschen Pass. Mit einer Praxis niederlassen dürfen sich aber die meisten der Klinikärzte nicht, weil sie die engen deutschen Approbationsregeln nicht erfüllen.
Fakt ist: An ausgebildeten Medizinern herrscht in Deutschland kein Mangel. Nur sind die inzwischen wählerischer geworden, wie Olaf Schulte-Herbrüggen beobachtet. 12.000 deutsche Ärzte sind nach Zahlen der Bundesärztekammer in den letzten Jahren ins Ausland gegangen, andere gehen in die Industrie. Während Deutschland für Osteuropäer attraktiv ist, lo- cken Großbritannien, skandinavische Länder oder die USA hiesige Mediziner mit mehr Geld und attraktiveren Arbeitsbedingungen. Schulte-Herbrüggen hat sich auch schon überlegt, ob er diesen Schritt tun sollte. Der 30-jährige Neurologe an der Berliner Uni-Klinik der Charité entschied sich aber anders: "Als Wissenschaftler braucht man halt auch gewisse Kontinuität." Ein Wechsel werfe einen vielleicht um ein Jahr in der Forschung zurück. Er will habilitieren und untersucht neben seinem Dienst in der Klinik biologische Ursachen von psychiatrischen Krankheiten. Dafür hat er an der Charité ein Labor mit aufgebaut und Geld geworben.
Inzwischen wurden die Kurzzeitverträge des 30-Jährigen immerhin durch einen Zweijahresvertrag ersetzt. Das Geld ist zudem nicht Hauptkriterium des Mediziners, der sich mehr als Wissenschaftler versteht. Schulte-Herbrüggen hat eine Veränderung gerade bei den Medizinern seiner Generation festgestellt: "Man lässt sich nicht mehr alles bieten." Der Ärztestreik sei ein Beispiel dafür, aber auch bei den Arbeitsbedingungen hätten viele inzwischen klare Grenzen - und diese Haltung können sie sich leisten: Im Deutschen Ärzteblatt füllen die Stellenangebote wöchentlich zwischen 70 und 100 Seiten. Manchmal suchen auch sehr renommierte Häuser wie die Charité in Berlin sehr lange Zeit. "Bewerber, die heute in der engeren Auswahl landen, hätten sich früher hier nicht beworben", sagt der Mediziner. Inzwischen hätten auch Ärzte mit mittelprächtigen Examen eine oder nach längerer Pause eine Chance wieder einstiegen.
Olaf Schulte-Herbrüggen sieht da, trotz Finanzknappheit und unübersichtlichen Regeln im Gesundheitssystem, beste Aussichten für seinen Weg. "Ich werde künftig nicht arm sein, kann manches nun lock-erer sehen, weil ich immer einen Job finden kann." Hochqualifizierte wie er vergrößern in einer solchen Situation ihre Verhandlungsmacht am Arbeitsmarkt. Statt wie früher eine Praxis anzustreben, hätten gute jüngere Ärzte nun andere Ziele, die außerdem besser bezahlt würden: "Die Option ist jetzt, in leitender Funktion in ein privates Krankenhaus zu gehen. "Was sich für ihn und andere als Ausweg zeigt, macht ihn fürs Gesundheitswesen insgesamt nicht optimistischer. Die Versorgung werde nicht unbedingt besser: "Da entsteht keine Dynamik."