Als zu träge, zu verschwenderisch und undurchsichtig gilt das deutsche Gesundheitswesen. Vor allem wirkt neben nicht funktionierenden Markt- und Wettbewerbsmechanismen und langsamer staatlich-administrativer Steuerung ein drittes Element äußerst Kosten treibend. Schon der Sachverständigenrat des Bundesgesundheitsministeriums versuchte im Mai 2005 aufzuschlüsseln, weswegen ein zentrales Instrument im deutschen Gesundheitswesen effizienz- und qualitätssteigernde Prozesse immer mehr blo- ckiert, statt diese zu fördern: Die so genannte "korporative Koordination", also die eigenständige Zusammenarbeit zwischen Organisationen des Gesundheitswesens wie Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen. Sie hat offenbar über die Jahre ein Eigenleben entwickelt, mit dem das übergeordnete Ziel aus dem Blick geriet.
Das Experten-Gremium kam zu dem Schluss, dass die Kassen im Leistungs- und Vertragsbereich bisher zu wenige Verhandlungs- und Preisdruckmöglichkeiten haben. Zweitens passten sich die ambulanten Vertragsärzte hinsichtlich der Menge und Qualität der medizinischen Leistungen lediglich an die Vorgaben an. Bei starren Budgets löse dies einen Hamsterradeffekt in Richtung Über- und Fehlversorgung aus. Die zunftähnlichen Vertriebsstrukturen bei Arzneimitteln sowie deren streng regulierte Besitzrechte verhinderten eine Preisspirale nach unten. Auch bei der in Deutschland gewachsenen Tradition der streng voneinander getrennten Behandlungsarten sahen die Experten einen zu geringen Anreiz, um Doppeluntersuchungen zu verhindern.
Potenziale, um die Effizienz und Qualität des Gesundheitswesens zu steigern, sehen die Gutachter zum Beispiel in einer Reduzierung der Zahl der Krankenkassen und Apotheken. Sie empfehlen zwar nicht die Abschaffung der Selbstverwaltung und mit ihr der Kassenärztlichen Vereinigung, dringen jedoch darauf, die dezentralen Wettbewerbsprozesse zu stärken: unter anderem durch andere Versorgungsformen, direktere Vergütungsformen sowie höhere Qualitätsstandards. Die aktuelle Gesundheitsreform hat sich erkennbar mit den einzelnen Kritikpunkten des Sachverständigenrats auseinandergesetzt.
So weit zu den dem bisherigen System innewohnenden Bremsklötzen, die man organisatorisch und gesetzestechnisch beseitigen oder zumindest abschleifen könnte. Viel dramatischer aber sind die eigentlich gar nicht vorgesehenen, illegalen Methoden einzelner Profiteure oder ganzer Gruppen, die das Gesundheitswesen zu ihren Gunsten auf Kosten der Gemeinschaft melken. Jährlich geht dort laut einer aktuellen Studie von Transparency International (TI) ein Milliardenbeitrag durch Korruption und Betrug verloren. Die Organisation geht sogar so weit zu sagen, dass man mit dem vorhandenen Budget im Gesundheitswesen zurechtkäme, würde man die Einfallschleusen für Korruption und Betrug schließen. Vorstandsmitglied Anke Martiny schätzt den jährlichen Schaden auf 8 bis 24 Milliarden Euro. Kritiker halten die Zahl für zu hoch gegriffen und einfach von den USA auf Deutschland heruntergerechnet. Doch dass es um mindestens eine Milliarde Euro jährlich geht, sagen selbst Kassenexperten.
Betrug und Korruption würden aber ebenfalls durch die gewachsene, undurchsichtige und zu viele Akteure beteiligende Struktur begünstigt, argumentiert Transparency International. Insofern würde das Verschlanken, Durchlüften und bessere Beleuchten des Gesundheitswesens eine Doppelwirkung entfalten: Es könnte direkt effizienter gewirtschaftet werden, aber indirekt würde eben auch die Zahl der Dunkelkammern für Betrüger geringer. Deswegen plädiert auch die Anti-Korruptions-Organisation für eine geringere Zahl an Kassen - schon aus Transparenzgründen. Entgegen der föderalen deutschen Struktur fordert sie sogar eine zentralere Verantwortlichkeit für die Kassenaufsicht im Bund, die sich nicht auf 16 Landesministerien verteile. Es habe sich ein "Wildwuchs an Funktionärsherrschaft" entwickelt, über den die Kontrolle schwieriger geworden sei.
Die Ärztevereinigungen, finanziert aus Zwangsbeiträgen der niedergelassenen Mediziner, beschrieb der "Spiegel" einmal als "Bermudadreieck des Gesundheitswesens": Dort verschwinden auf mysteriöse Weise alle Informationen, die für einen effizienteren Mitteleinsatz nötig wären. Für die Öffentlichkeit ist nicht nachprüfbar, nach welchem Schlüssel welcher Arzt für welche Leistung aus den Fallpauschalen honoriert wird, die die Vereinigungen von den Krankenkassen bekommen. Auch die einzelnen Ärzte wissen es oft nicht. Schlimmer noch: Weder Patienten noch die Kassenärztlichen Vereinigungen können in der Regel überprüfen, ob der Arzt die Leistung tatsächlich erbracht hat, die er abrechnet. Das Risiko entdeckt zu werden, ist daher für Betrüger gering. Das System vertraut zu sehr blind auf die Ehrlichkeit aller Beteiligten.
Bei der pharmazeutischen Industrie bekommen die so genannten Scheininnovationen von TI Korruptionsrang attestiert. Der TI-Arbeitsgruppe "Korruption im Gesundheitswesen" zufolge sind 92 Prozent der seit 1990 entwickelten neuen Substanzen Scheininnovationen, die mit hohem Werbeaufwand den Markt erobern und nicht besser, sondern nur teurer als bereits vorhandene Medikamente seien. Kritik übt TI auch an den schrägen Marketing-Praktiken der Pharmabranche: "Es ist trotz aller Prozesse immer noch alltägliche Praxis, das Verschreibungsverhalten der Ärzte mit fragwürdigen Methoden zu beeinflussen und sich medizinische Meinungsbilder zu kaufen", sagt Anke Martiny. Der Verein fordert daher auch schärfere Regelungen bei Werbegeschenken und -reisen an privatwirtschaftliche Akteure des Gesundheitswesens wie Kliniken und Apotheken sowie an Ärzte.
Gefälscht wird laut Transparency bereits ungehemmt, nicht nur bei der Arzneimittelproduktion, sondern auch wenn es um die Informationsgewinnung geht. Deswegen müssten gesetzliche Maßnahmen bei Studienfälschung, -manipulation und werblichen Falschaussagen verschärft und das Sponsoring von Studien transparenter gemacht werden.
Die Krankenkassen selbst sind für Betrug anfällig, wie jede andere Behörde auch, in der es Geld zu verteilen gibt. Dennoch brauchte es erst eine Verpflichtung des Gesetzgebers im Jahr 2004, bevor die Kassen flächendeckend Anti-Betrugs-Einheiten aufbauten. Die Kaufmännische Krankenkasse deckte im Mai 2006 nach eigenen Angaben neue Betrugsfälle auf, die sich allein bei dieser im Vergleich zu den großen Ortskrankenkassen kleinen Ersatzkasse in den Monaten Januar bis April 2006 auf über 350.000 Euro summierten. Dort versucht man bereits seit fünf Jahren in einem eigens dafür eingerichteten Arbeitsbereich, der Abrechnungsmanipulation beizukommen. Seit 2004 holte der Chefermittler der AOK Niedersachsen beispielsweise 16,2 Millionen Euro für sein Haus und andere Kassen zurück. Die Liste der Betrugsmöglichkeiten ist lang und reicht bis zu Patienten, die am Abrechnungstag ihrer angeblichen Behandlung längst verstorben waren. All dies jedoch gibt es nicht nur im deutschen Gesundheitssystem: In den USA ist die strukturelle Korruption im Gesundheitswesen inzwischen zur Nummer eins der Wirtschaftskriminalität geworden.
Die Autorin arbeitet als Politikjournalistin und Publizistin in Berlin.