Noch jede Gesundheitsreform hat den Widerstand der Lobbyisten geweckt, doch so früh und vehement wie in den vergangenen Monaten haben die Interessenvertreter noch nie losgeschlagen. Die Mitarbeiter im Leitungsstab von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) sind einiges gewohnt, aber mit derart flächendeckendem Protest hatten sie wohl kaum gerechnet. Die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) starteten große Kampagnen, die Privaten Krankenversicherungen (PKV) wollen das Bundesverfassungsgericht anrufen, die Apotheker gehen auf die Straße und sogar kleinste Interessenverbände wie das extra gegründete "Aktionsbündnis Heilmittelversorgung" warnen vor einem Ende der "wohnortnahen Versorgung für Patienten". Höhepunkt waren tausende angeblich organisierter Beschwerdebriefe von PKV-Versicherten, die die Faxgeräte und Postfächer von Gesundheitspolitikern überquellen ließen. Brief-Kampagnen dieser Art können allerdings auch zum Eigentor werden: "Interessenvertretung ist konstitutioneller Bestandteil der Demokratie", sagt SPD-Gesundheitsexpertin Marlies Volkmer, "aber Lobbyismus, der sich solch unmoralischer Methoden bedient, ist eine Gefahr für die demokratische Kultur."
Nicht immer ist Lobbyarbeit so lautstark und umstritten - im Gegenteil: Solche Eskalationen über öffentlichen Druck gelten bei Branchenkennern eher "als letztes Mittel", wenn alle sonstigen Einflussversuche im Vorfeld gescheitert sind. Viel üblicher und weniger spektakulär sind persönliche Gespräche mit den zuständigen Referenten, Positionspapiere, Studien und Fakten, die den Gesundheitsexperten der Fraktionen, den Ländervertretern und dem Gesundheitsministerium zugeleitet werden. "Für die Politik ist es unabdingbar, Informationen und Feedback von außen zu erhalten, auch wenn die Auskünfte nur für Teilinteressen stehen", erklärt Marco Althaus, Geschäftsführer des Deutschen Instituts für Public Affairs, und gibt zu bedenken, "dass gerade, weil es so viele Akteure gibt, diese eine hohe gegenseitige Kontrolle haben".
In keinem Bereich tummeln sich so viele Interessenvertreter wie beim Thema Gesundheit. 430 von mehr als 2.000 der in der öffentlichen Lobbyistenliste des Bundestags eingetragenen Verbände arbeiten für die Gesundheitsbranche. Kein Wunder: Das System ist hochkomplex und es geht um viel Geld. 4,2 Millionen Menschen arbeiten in der Branche, die jährlich mehr Umsatz erwirtschaftet als die deutsche Automobilindustrie. Die Gesamtausgaben für Gesundheitsleistungen liegen bei 245 Milliarden Euro im Jahr - zum Vergleich: Der gesamte Bundeshaushalt 2007 beläuft sich auf 270 Milliarden Euro.
Im Mittelpunkt des Gesundheitswesens sollten eigentlich die Patienten stehen, trotzdem sind sie vergleichsweise schlecht vertreten. Für sie setzt sich hauptsächlich der Bundesverband der Verbraucherzentralen ein, dazu kommen unzählige Selbsthilfegruppen. Doch sind diese nicht unproblematisch, weil sie oft - auch im Verborgenen - von der Pharmaindustrie umworben oder sogar benutzt werden. Ein Beispiel: Als der Heidelberger Pharmakologe Professor Ulrich Schwabe nachwies, dass der Wirkstoff Alprostandil Amputationen durch Arterienverschluss nicht wirksam verhindert, erhielten Mitglieder des Gesundheitsausschusses eine zehnseitige Präsentation eines Herstellers mit grausigen Amputationsbildern angeblich betroffener Patienten.
Die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Helga Kühn-Mengel (SPD), beschreibt die Schwierigkeiten der Patientenverbände: "Die Patientenvertreter arbeiten derzeit ehrenamtlich und haben - im Gegensatz zu Ärzteschaft und Kassen - keinen wissenschaftlichen Expertenpool im Rücken." Auch Judith Storf, Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen (BAGP) ist nicht zufrieden: "Ich kann nicht mit gutem Gewissen behaupten, über alle Themen zeitnah informiert zu sein und entsprechende Einschätzungen abgeben zu können."
Umso professioneller und zahlreicher ist das Heer der anderen Verbände, die Ärzte, Krankenkassen, Privatversicherer, Logopäden, Heilpraktiker, Apotheker oder Pharmahersteller vertreten. Je nach Reform oder politischem Konflikt bilden sie immer neue, oft unerwartete Allianzen. Wer heute mit Pharma koaliert, schlägt sich morgen auf die Seite der Ärzte. "Es ist als ob man durcheinander geratene Eisenspäne beobachtet, die sich je nach Magnetimpuls anderen Richtungen zuwenden und neue Grüppchen bilden", beschreibt diesen Umstand eine CDU-Parlamentarierin. Drastischer drückt sich Ex-Gesundheitsminister Host Seehofer (CSU) aus: "Wenn Sie den Lobbyisten das Feld überlassen, ist es so, als würden Sie Vampiren die Leitung einer Blutbank übertragen." Die meisten Politiker gehen mit den Lobbyisten sehr professionell um, genauso wie die Mitglieder des so genannten Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA). Der Ausschuss ist das zentrale Selbstverwaltungsorgan im Gesundheitswesen, hier wird entschieden, welche Therapien und Medikamente in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen werden. Die GBA-Mitglieder versinken regelmäßig in einer Flut von Hinweisen, Aufsätzen, Fachartikeln und Studien. "Es ist gut und normal, dass man von vielen Seiten unterschiedliche Informationen bekommt", sagt Rolf Stuppardt, der als Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes der Innungskrankenkassen (IKK) im Ausschuss sitzt. Während Formulierungshilfen bis zu einem gewissen Grad erwünscht sind, ist die Methode, Selbsthilfegruppen für sich einzusetzen, eher zeitraubend. Bei solchen Aktionen gehen hunderte Briefe und Faxe ein, oft auch von Menschen, die nur einseitig informiert und aufgehetzt wurden. "Das sind dann schon Belästigungen und die nehmen in jüngster Zeit zu", erklärt Stuppardt. Angesichts dutzender Musterprotestbriefe wie etwa kürzlich vom Bundesverband der Zweithaar-Einzelhändler und zertifizierter Zweithaarpraxen (BVZ) kann es anstrengend werden, unwichtige Masse von berechtigten Einzelinformationen zu trennen.
Entscheidend für erfolgreiche Lobbyarbeit im politischen Berlin sind persönliche Beziehungen und stille Bündnisse. Oft kennt man sich seit Jahren, duzt sich sogar. Einer von Ulla Schmidts Referatsleitern, Boris Velter, war zuvor bei der AOK. Abteilungsleiter Peter Roppel, im Kanzleramt unter anderem für Gesundheit zuständig, wurde direkt aus dem Direktorium der Bundesknappschaft abgeworben. Die Ex-Gesundheitsministerin Birgit Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) aus Nordrhein-Westfalen wechselt Anfang 2007 in den Barmer-Vorstand. Und Cornelia Yzer vom VFA war ehemals Staatssekretärin im Forschungsministerium. Die Komplexität der Materie macht fundiertes Fachwissen und gute Kontakte zur begehrten Ware. Auch der ehemalige SPD-Gesundheitsfachmann Klaus Kirschner legt Wert auf die Meinung der Lobbyisten: "Es ist normal, dass Interessenvertreter an die Tür klopfen und sagen: Wir möchten mit Ihnen reden. Ich habe mich dem nie verweigert. Es ist auch meine Aufgabe, mich der Diskussion zu stellen."
Auch wenn Lobbyisten im umkämpften Gesundheitsmarkt ein Image als Schattenmänner haben, "so erfüllen sie durchaus einen demokratischen Zweck", erklärt Verbände-Experte Althaus. Lobbyarbeit ist sogar im Grundgesetz (Artikel 5, 9 und 17) verankert: "Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden." Demokratie braucht die Meinung von allen Mitgliedern der Gesellschaft - das gilt erst recht beim Thema Gesundheit, weil es jeden betrifft. Der Staat muss nur in den Rahmenbedingungen sicherstellen, dass dabei im Gezeter der Interessen niemand mit leiser Stimme untergeht.
Eva Haacke arbeitet als Korrespondentin der "Wirtschaftswoche" in Berlin. Mona Niebuhr ist freie Journalistin in Berlin.