Das Parlament: Warum gilt das Gesundheitssystem als größter Tummelplatz für Lobbyisten?
Martina Bunge: Kaum ein Thema betrifft alle Menschen so wie Gesundheit. Jede und jeder ist mal Patientin beziehungsweise Patient, viele Menschen haben ihren Arbeitsplatz in der Gesundheitsbranche, und Unternehmen verdienen ihr Geld mit Arzneimitteln, medizinischen Geräten, Innovationen oder Gesundheitsdienstleistungen. Da ist es logisch und demokratisch legitim, dass jeder versucht, seine Interessen zu vertreten und die Politik auf seine Belange hinzuweisen. Nicht jeder ist Lobbyist, die Bezeichnung ist ja zutiefst negativ belegt. Der Tummelplatz der Interessenvertreter ist so groß, weil bildlich gesehen, die Decke im gegenwärtigen Gesundheitswesen nicht für alle reicht - deshalb wird an allen Ecken gezerrt.
Das Parlament: Bundeskanzlerin Merkel bezeichnet die aktuelle Gesundheitsreform gerne als "wichtigstes Vorhaben dieser Legislaturperiode" - was heißt das für die Arbeit des Gesundheitsausschusses?
Martina Bunge: Natürlich gibt es von den unterschiedlichen Interessenvertretern noch mehr Gesprächsanfragen als sonst. Jeder schickt uns seine Position und seine Studien. Mehrere öffentliche Anhörungen im Bundestag sind nötig, in denen sich zwischen zehn und 20 Verbände zu allen Teilbereichen der Reform äußern können. Da sind alle Gesundheitsbranchen von Apothekern, Ärzten, privaten und gesetzlichen Krankenkassen, Kliniken, Pharmaindustrie und Patientengemeinschaften vertreten. Anhörungen bringen eine Menge Informationen für Abgeordnete und die Fachleute in den Ministerien, denn die Experten aus den Verbänden prüfen das Gesetzesvorhaben natürlich genau auf seine Umsetzbarkeit und seine Auswirkungen. Da kann es auch schon mal zu heftigen Protesten und Warnungen kommen, wie etwa bei der aktuellen Gesundheitsreform, als einige Verbände gar nicht erst zur Anhörung erscheinen wollten. So etwas kommt allerdings nur selten vor.
Das Parlament: Wie versuchen Lobbyisten zu Ihnen vorzudringen?
Martina Bunge: Das ist eher unspektakulär - es gibt Terminanfragen. Und natürlich sind die Abgeordneten der Regierungsfraktionen immer eher das Ziel der Lobbyisten als die Opposition. Da wird dann auch schon mal Druck ausgeübt, es geht um Arbeitsplätze im Wahlkreis, oder eine sehr einflussreiche Branche lässt in verschiedenen Bundesländern ihre Verbindungen spielen, wie das auch bei den Bemühungen um ein Rauchverbot in öffentlichen Räumen gezeigt hat. Als Ausschussvorsitzende treffe ich mich in der Regel mit allen Interessenvertretern, die zu mir kommen wollen und mache mir danach ein Bild. Entscheidend ist dabei für mich: Geht es den Leuten noch ums Gemeinwohl oder letztlich darum, möglichst viel Geld in die eigene Tasche zu wirtschaften.
Das Parlament: Wann erreicht die Einflussnahme der Interessenvertreter eine Grenze?
Martina Bunge: Wenn Parlamentarier so stark beeinflusst werden, dass sie nur noch aufgrund äußeren Drucks entscheiden und längst nicht mehr nach ihrer fachlichen Sicht beziehungsweise ihrem Gewissen. Schlimm ist es auch, wenn mit falschen oder manipulierten Informationen gearbeitet wird und die Interessenvertreter damit sogar Erfolg haben. Oder wenn Patientenschicksale gezielt benutzt werden, um bestimmte Medikamente beim Gemeinsamen Bundesausschuss durchzusetzen. Dieser Ausschuss aus Vertretern von Krankenkassen, Patientenverbänden, Kliniken und Ärzteorganisationen entscheidet, welche Arzneimittel die gesetzlichen Krankenkassen finanzieren.
Das Parlament: Wann im parlamentarischen Verfahren sind die Lobbyisten am aktivsten?
Martina Bunge: Das geht sehr früh los, schon lange bevor ein Gesetzentwurf in den Bundestag kommt. In den Vorbereitungsrunden für die Gesundheitsreform wurden die Fraktionsexperten, Fachbeamten und Referenten bereits in Gesprächen und mit Positionspapieren bearbeitet. Mitunter schreiben Verbandsjuristen buchstäblich an den Gesetzesformulierungen mit. Aber das Ergebnis einer Reform prägen auch die parteipolitischen Ansichten der Koalitionäre, wie es gerade der Streit zwischen SPD und Union um die Gesundheitsreform zeigt. Jede Seite versucht, das Gesicht einigermaßen zu wahren und zumindest Teile ihrer ursprünglichen Forderungen im Gesetz wieder zu finden.
Das Parlament: Können die Informationen aus den Verbänden nicht manchmal hilfreich sein, vor allem wenn es um komplizierte gesundheitspolitische Themen geht?
Martina Bunge: Sicher, die Politik ist auf diesen Austausch auch angewiesen und nicht jeder Fachbeamte überblickt einzelne Folgen seiner Regelungen. Aber gerade in der Gesundheitspolitik bin ich oft äußerst skeptisch, weil es eben um ein sehr sensibles Thema und enorm viel Geld geht.
Das Parlament: Die aktuelle Gesundheitsreform verlief in vielen Phasen chaotisch - ist es da nicht verständlich, dass betroffene Branchen regelrechte Gegenkampagnen starteten?
Martina Bunge: Das stimmt leider. Die Verbitterung und Verunsicherung bei allen Beteiligten ist groß. Aber ich denke das liegt am Verfahren: Erst wurden die Eckpunkte der Reform hinter verschlossenen Türen ausgehandelt. Dann erblickte über das Internet ein nicht autorisierter Gesetzentwurf nach dem anderen das Licht der Welt. Für viele wurden Details nur über die Medien bekannt und das monatelang. Da sind Proteste programmiert, denn die Akteure im und rund um das Gesundheitssystem und das Parlament wurden faktisch lange übergangen. Nach dem ewigen Ringen der Koalitionäre im Vorfeld sind natürlich die Hoffnungen auf Änderungen im parlamentarischen Verfahren sehr gering.
Das Parlament: Dringen Patientenvertreter angesichts dieser teilweise ausgesprochen starken und professionellen Lobbygruppen mit ihren Wünschen überhaupt durch?
Martina Bunge: Sie haben es viel schwerer, weil es meistens ehrenamtliche Vertreter sind und die Strukturen weit verzweigt. Aus meiner Sicht muss noch viel mehr getan werden, um die Patientenseite zu stärken. Es wird leider immer wieder ausgeblendet, dass es letztlich um den Patienten das grundsätzlich verankerte Sozialstaatenmodell geht.
Das Gespräch führte Eva Haacke