Gesundheitsreformen werden unter dem massiven Druck von Lobbyisten gemacht. Der Pharmaindustrie gelingt es seit Jahrzehnten aber nicht nur während Gesetzgebungsverfahren, ihre wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Ein wichtiger Grund, warum das deutsche Gesundheitswesen statistisch gesehen nach den Vereinigten Staaten zu den teuersten Systemen der Welt zählt, wie OECD und Sachverständigenrat unabhängig voneinander festgestellt haben.
Die Pharmaindustrie bedient eine ganze Reihe von Hebeln, um ihren Einfluss geltend zu machen. Die international agierenden Konzerne können jederzeit damit drohen, ihren Standort ins Ausland zu verlagern und dadurch viele Arbeitsplätze in Deutschland abzubauen. Einzelne Unternehmen spenden auch an Parteien oder finanzieren maßgeblich so genannte Patientenorganisationen. Oftmals versuchen sie Ärzte in Krankenhäusern und Praxen auf sehr viel subtilere Weise zu beeinflussen: durch massives Marketing, durch einseitig ausgerichtete Fortbildungsveranstaltungen oder durch Geschenke.
Besonders deutlich wurde der Einfluss der pharmazeutischen Industrie auf die Politik an der Positivliste für Arzneimittel bei der Gesundheitsreform 2003. Ursprünglich war vorgesehen, durch ein wissenschaftliches Gremium eine "Positivliste" von Arzneien aufstellen zu lassen, die als wirksam und preisangemessen gelten und von den Kassen erstattet werden sollten. Dieses Instrument zur Kostensenkung und Qualitätssteigerung ist vielen Pharmafirmen ein Dorn im Auge. Der Tübinger Pharmakologe Ulrich Schwabe schätzt das jährliche Einsparvolumen durch eine solche Liste für die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) hingegen auf 800 Millionen Euro. Auch viele der von Pharma-Unternehmen häufig großzügig gesponserten so genannten Fortbildungskongresse sind oftmals nur geschicktes Marketing für eigene Produkte. Als Reaktion darauf hat der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) im Februar 2004 die "Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittelindustrie e. V." gegründet. Damit will der Verband nach eigenen Angaben sicherstellen, dass in der Zusammenarbeit von Ärzten und Industrie Verhaltensregelungen eingehalten werden, die eine "unlautere Beeinflussung der ärztlichen Unabhängigkeit ausschließen". VFA-Vorsitzender Andreas Barner warnt die Mitgliedsunternehmen: "Wir können es uns nicht leisten, dass durch einzelne Missbrauchsfälle die ganze Branche und damit auch legitime Kooperationsformen in Misskredit gebracht werden."
Als Beispiele für unlautere Methoden nennt Barner Fortbildungsveranstaltungen mit Tourismus- oder Unterhaltungscharakter. Fortbildungsveranstaltungen müssten auf Wissensvermittlung fokussiert sein, so Barner. Hintergrund der VFA-Initiative sind Fälle, die seit Jahren auch Polizei und Justiz beschäftigen. So sind Pharma-Unternehmen in den Verdacht der Bestechung geraten, weil sie Ärzten und ihren Ehepartnern oder Lebensgefährten im In- und Ausland luxuriöse Wochenend-Events angeboten hatten, beispielsweise die kostenlose Teilnahme an Formel-1-Rennen am Hockenheim-Ring oder an Spielen der Fußball-Weltmeisterschaft.
Der Versuch der Beeinflussung der Ärzte findet aber vor allem in den Praxen und Krankenhäusern statt. Die Medikamentenhersteller senden eine große Zahl an Pharmareferenten aus, die die Ärzte direkt in ihren Praxen aufsuchen. Dabei versuchen sie Ärzte unter anderem mit Methoden zu locken, die am Rande der Legalität liegen. Einer dieser "Anreize" ist die so genannte Anwendungsbeobachtung. Dabei werden niedergelassene Ärzte aufgefordert, bei der Verordnung neuer Präparate zu dokumentieren, wie die neuen Mittel auf die Patienten wirken und erhalten dafür ein entsprechendes Honorar. Mit dieser Form der Patientenbeobachtung wurde offenbar wiederholt Missbrauch getrieben. So berichtete das ZDF-Magazin "Frontal 21" über zweifelhafte Anwendungsbeobachtungen. Leonhard Hansen, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrheim stellte dort eine Untersuchung vor, wonach die Mehrzahl dieser Studien nicht dem Wohl der Forschung, sondern vor allem der Pharmaindustrie dient: "Wir haben 131 neue Anwendungsbeobachtungen, die uns im zweiten Halbjahr 2005 gemeldet worden sind, untersucht." Das "absolute Gros" verfolge dabei nur Marketinginteressen. Anwendungsbeobachtungen werden also als Instrument genutzt, um den Umsatz zu steigern. Ulrich Schwabe, Pharmakologe an der Universität Heidelberg, sieht darin sogar eine Gefahr für die Gesundheit der Patienten. Um ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen durchzusetzen, sucht die Pharmaindustrie auch die Nähe zu Patientenvertretungen und Selbsthilfegruppen. Nach der Beobachtung des Bremer Pharmakologen Peter Schönhöfer sei es "erklärte Politik der Pharmaindustrie, die Selbsthilfegruppen zu nutzen, um Druck auf die Politik auszuüben". Laut Stefan Etgeton vom Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) kooperierten viele Selbsthilfegruppen mit der Gesundheitsindustrie und ließen sich von den Privatunternehmen finanziell unterstützen. Für den Verbraucherschützer gilt dabei die Faustregel: Industriesponsoring ist unbedenklich, wenn das Geld nicht zur Existenzsicherung gebraucht wird, sondern lediglich als Zubrot dient. Nach seiner "groben Schätzung" arbeitet die überwiegende Mehrheit der insgesamt rund 20.000 Selbsthilfegruppen mit ihren mehr als eine Million Mitgliedern in diesem Punkt "ordentlich". Bei einer Minderheit der Selbsthilfegruppen hält er die Verquickungen mit der Industrie für "nicht sauber". Ein weiterer Teil arbeitet laut Etgeton in einer "Grauzone".
Der Autor ist leitender Redakteur Soziales beim Evangelischen Pressedienst (epd).