An manchen Tagen waren die Schmerzen unerträglich. Ein halbes Brötchen zum Frühstück reichte oft schon und die Magenkrämpfe waren da, unerbittlich. In der Nacht krümmte sich Michael (Name von der Redaktion geändert) vor Schmerzen, den Tag überstand er nur mit Schmerztabletten, die er sich wahllos in der Apotheke kaufte. Dann schleppte er sich zur Arbeit. Er schuftete auf dem Bau, renovierte Wohnungen, trug Möbel durch die Gegend und verlegte Abwasserrohre, je nachdem, was seine Auftraggeber ihm gerade anboten. Krank sein, im Bett liegen bleiben, zum Arzt gehen - das war für den Kleinspediteur nicht drin; nicht, wenn man angewiesen ist auf die paar Jobs und erst recht nicht, wenn man keine Krankenversicherung hat. Vor fünf Jahren war Michael aus der Kasse geflogen, weil er seine Beiträge nicht mehr bezahlen konnte. Zwei seiner Auftraggeber hatten ihn um seinen Lohn geprellt, das Geld hat er bis heute nicht gesehen, trotz Klage. Seither steht der 42-Jährige alleine da mit seinen Schmerzen, ohne Versicherung, ohne ärztliche Versorgung. Bis zu 300.000 Deutschen geht es so wie ihm, hinzu kommt eine unbekannte Zahl illegaler Migranten, die laut deutschem Zuwanderungsrecht keinen Anspruch auf medizinische Hilfe haben.
Adelheid Franz hat über 6.000 dieser Menschen in den vergangenen fünf Jahren behandelt. In Berlin leitet die Allgemeinmedizinerin seit 2001 eine Beratungsstelle, die "Malteser Migranten Medizin", in der sie sich um all die kümmert, die sich keinen Arztbesuch leisten können - in erster Linie illegal hier lebende Menschen. Finanziert wird ihr Projekt hauptsächlich durch Spenden und mit Hilfe von Fachärzten, die ehrenamtlich für Franz arbeiten oder ihr für eine Behandlung nur den Materialaufwand in Rechnung stellen. Mit den Jahren hat die Ärztin ein ganzes Netzwerk von Medizinern und Kliniken aufgebaut, die einspringen, wenn sie allein nicht helfen kann. Die Patienten zahlen nur, was sie zahlen können. Und das ist in der Regel nicht viel.
Im Oktober hat Adelheid Franz für ihr Engagement das Bundesverdienstkreuz bekommen - eine erstaunliche Anerkennung für die Ärztin, die im wahrsten Sinne des Wortes an der Grenze der Legalität operiert: 80 Prozent ihrer Patienten leben illegal in Deutschland. Sie zu behandeln ist per Gesetz verboten - auch wenn die reine medizinische Hilfe inzwischen geduldet wird. Doch alles was darüber hinausgeht, etwa wenn Franz hochschwangeren, oft völlig mittellosen Frauen Babysachen oder eine Decke in die Hand drückt, könnte hohe Haftstrafen nach sich ziehen. "Ich mache mehr, als die reine medizinische Versorgung, wenn es gar nicht anders geht", sagt sie. Ein Risiko, aber es hält sie nicht davon ab, jeden zu behandeln, der in ihre Praxis kommt, anonym und ohne Chipkarte. "Als Arzt bin ich verpflichtet, mich um jemanden, der zu mir kommt, zumindest so weit zu kümmern, dass ich ihn auch wieder wegschicken kann, ohne dass ihm etwas passiert", sagt sie. Es sei "ein Gebot der Menschlichkeit", und das klingt bei ihr nicht nach Pathos, sondern nach Überzeugung.
Tatsächlich ist, wer in ihre Praxis in Berlin-Wilmersdorf kommt, oft am Ende seiner Kräfte. Viele leiden wie Michael schon Wochen oder Jahre an einer Krankheit und kaum jemand wagt es, darüber auch nur zu sprechen. "Ich habe auf der Baustelle oft erlebt", erzählt Michael, "dass jemand sich böse verletzt hat. Wenn man dann sagt, "oh, damit gehste mal lieber zum Arzt", hört man oft nur ein Murmeln. Dann weiß man schon immer, da ist wieder so einer, bei dem geht das einfach nicht." Er selbst schweigt ebenso beharrlich über seine Situation. Kein Wort gegenüber Auftraggebern und Freunden. "Das ist kein Thema, über das man gerne redet. Ich habe Angst, Aufträge zu verlieren, wenn das rauskommt, und als ich krank war, habe ich versucht, mir nichts anmerken zu lassen." Sich arbeitslos melden und "einfach den Kopf in den Sand stecken", auch wenn er dann versichert gewesen wäre, wollte er nicht. Er kämpfte um seine Existenz und verdrängte die Schmerzen in seinem Innern - bis es irgendwann nicht mehr ging. "Die Leute, die keine Krankenversicherung haben", berichtet Franz, "die warten. Mit einem Husten oder mit ein paar Halsschmerzen trauen sie sich nicht hierher. Die haben gleich eine Bronchitis oder eine Lungenentzündung, die schleppen Gürtelrosen tagelang mit sich herum und kommen erst dann, wenn sie die Schmerzen nicht mehr aushalten." Auch Schwangere sieht sie oft erst in der 39. Woche, viel zu spät für eine angemessene Vorsorge. Einmal kam sogar eine Frau zu ihr, die schon in den Wehen lag.
Michael ging im letzten Sommer in die Praxis von Adelheid Franz. Da wog er nur noch 60 Kilo und war nach eigener Aussage "kein Mensch mehr". Fünf Jahre lang hatte er furchtbare Krämpfe ertragen, ohne zu wissen, woher sie eigentlich kamen. Nach einigen Untersuchungen stand fest: Es war die Galle, voll mit Gallensteinen, so voll, dass es ein Wunder war, dass Michael überhaupt noch laufen konnte. Im Krankenhaus wurde ihm die stark entzündete Gallenblase schließlich entfernt, durch vier winzig kleine Sonden. Ein Routineeingriff, und Michael war nach Jahren endlich frei von Schmerzen. Zeitweise, sagt er heute, sei ihm seine Lage richtig ausweglos vorgekommen. Aber, habe er sich immer gesagt, "ich bin selbständig, ich muss arbeiten, ich muss". Und dann hat er Tabletten in sich hineingestopft, viel zu viele, weil er es irgendwie schaffen musste. Zum Schluss hatte er bis zu fünf Koliken pro Woche.
Krankengeschichten wie diese gehören für Franz zum Alltag. Neu ist allerdings auch für sie, dass neben den illegalen Migranten in letzter Zeit immer mehr Deutsche zu ihr kommen. "Es vergeht kein Tag, an dem nicht ein bis zwei Deutsche da sind", sagt sie, "früher waren die hier die Exoten."
Zum einen sind es Studenten und Arbeitnehmer, die sich nicht fristgemäß bei ihrer Krankenkasse an- oder umgemeldet haben und dann ihren Versicherungsschutz verlieren. Vor allem aber sind es immer mehr Selbstständige, Leute wie Michael, für die es offenbar immer schwieriger wird, Aufträge zu bekommen und die sich durchschlagen, oft unterhalb des Existenzminimums. "Es reicht zum Überleben", beschreibt Michael seine Situation. Nur muss er dafür von früh bis spät arbeiten, egal ob er Grippe hat oder Zahnschmerzen. Wochenenden oder gar Urlaube sind nicht drin. "Besonders die ehemaligen Ich-AGs sind bei uns in der Praxis ein typischer Fall", sagt Adelheid Franz. "Die Leute wurden, so lange es diese gab, regelrecht hineingedrängt. Am Anfang brauchten die nicht mal ein Konzept vorzulegen, brauchten nur zu sagen, ich mache dies und jenes, und dann wurden die drei Jahre lang gefördert."
Am Ende der Förderung standen viele da mit ihrem Ein-Mann-Unternehmen - oft ohne Einkünfte, ohne Aufträge, und dann galt es schnell zu entscheiden: Die Miete nicht bezahlen? Oder lieber die Krankenkasse weglassen? Die meisten wählen letzteres. Und dann hat es sich mit der Versicherung schnell erledigt: "Nach drei Monaten", sagt Franz, "beziehungsweise spätestens nach einer Übergangszeit von einem halben Jahr, ist Feierabend. Wer bis dahin seine Beiträge nicht nachgezahlt hat, fliegt raus." Und zwar oft endgültig. Denn aufgenommen wird in der Gesetzlichen Krankenkasse nur wer wieder arbeitslos wird -dann übernimmt das Amt die Kosten - oder wer als Arbeitnehmer fest eingestellt wird. Allen anderen, wie Michael, bleibt nur, es bei den Privaten zu versuchen. "Die Privaten aber nehmen eben gern junge gesunde Männer", sagt Adelheid Franz.
Auch Michael hat sich einmal ein Angebot bei den Privaten eingeholt. Das war zu einer Zeit, als es ihm finanziell etwas besser ging. Doch als die Kasse ihn daraufhin zum Arzt schickte - Risikoanalyse nennen das die Versicherer - hat er gekniffen. "Ich war doch schon so krank", sagt er. "Die hätten mich in meinem Zustand ohnehin nicht genommen." Heute, sagt Franz, müsste es erst gar nicht so weit kommen. Seit April 2006 gibt es eine Regelung, dass Selbstständige, die nicht genug verdienen, vom Arbeitsamt einen Zuschuss bekommen können. "Früher", sagt Franz, "mussten die Leute erst ihren Job aufgeben. Heute können sie Arbeitslosengeld als flankierende Maßnahme beantragen. Nur wissen das viele nicht. Deshalb sage ich immer: Geht zur Arbeitsagentur, versucht es. Wenn ihr Anspruch auf nur einen einzigen Cent Zuschuss habt, werdet ihr vom Amt auch krankenversichert."
Ein anderer Hoffnungsschimmer für die Betroffenen ist die Gesundheitsreform. Im Gesetzentwurf ist vorgesehen, dass "soziale Sicherheit im Krankheitsfall" in Zukunft für alle Deutschen - nach wie vor nicht für illegal in Deutschland lebenden Menschen - gewährleistet sein soll. Wer schon einmal gesetzlich versichert war, soll wieder in die GKV zurückkehren dürfen. Alle anderen können zu einem Basistarif in die Private Krankenversicherung eintreten - und das ohne die übliche Risikoprüfung.
Für Michael wäre das eine Lösung. Nur ob es am Ende auch so kommt, weiß er nicht. Er hofft nur, dass "bald irgendwas passiert" und Leuten wie ihm endlich geholfen wird. Jeder Tag ist für ihn ein Risiko. Wie lange kann ein solches Leben gut gehen? "Man bewegt sich auf einem schmalen Grat", sagt er. "Man kann oben bleiben, aber man kann auch jederzeit herunterfallen." Er lächelt dabei. Dann trinkt er seinen Kaffee aus und eilt davon. Der nächste Job wartet schon.
Johanna Metz ist freie Journalistin in Berlin.